Keller und Beckett

Gottfried Keller, Die Leute von Seldwyla, Das verlorene Lachen:

“Ich glaube nicht verlangen zu können, daß es überall und selbstverständlich gut gehe, sondern fürchte, daß es hie und da schlimm ablaufen könne, und hoffe, daß es sich dann doch zum Besseren wenden werde. Zugleich ist mir bei allem, was ich auch ungesehen und ungewußt tue und denke, das Ganze der Welt gegenwärtig, das Gefühl, als ob zuletzt alle um alles wüßten und kein Mensch über eine wirkliche Verborgenheit seiner Gedanken und Handlungen verfügen oder seine Torheiten und Fehler nach Belieben totschweigen könnte. (…)

Wie nun dieses Wissen aller um alles möglich und beschaffen ist, weiß ich nicht; aber ich glaube, es handelt sich um eine ungeheuere Republik des Universums, welche nach einem einzigen ubd ewigen Gesetze lebt und in welcher schließlich alles gemeinsam gewußt wird. Unsere heutigen kurzen Einblicke lassen eine solche Möglichkeit mehr ahnen als je (….).”

Wenn man Literaturwissenschaft im Kontext von Geschichtsphilosophie studiert hat, wie es in den siebziger Jahren an der Universität Hamburg möglich war, dann wird einem das Leben unter und inmitten von Faktenhubern sauer. Der Faktenhuber zeichnet sich dadurch aus, dass er oder sie nur das wahrzunehmen vermögen, was sie unmittelbar vor Augen haben. Das Wort fort ist dann nichts weiter als das Wort fort. …

Ich breche diesen Gedankengang hier ab und komme zu meiner ursprünglich intendierten Frage, was Keller mit Beckett gemeinsam haben könnte? Es ist das Bewußtsein des Bewußtseins, das Selbstbewußtsein des Bewußtseins. Oder, um es mit Shakespeare zu sagen, wenn er es denn gesagt hat: Nichts Menschliches sollte einem mehr fremd sein, und für die Moderne bedeutet dies unter anderem die Fähigkeit, aus sich herauszutreten, sich von außen oder von der Perspektive eines anderen zu betrachten.

Beckett steht nicht nur für „verrückte“, komische Geschichten, er steht, was seine Romane betrifft, vor allem mit der Trilogie „Molloy, Malone Stirbt, Der Namenlose“ für das explizit gewordene Bewußtsein seiner selbst, für das Bewußtsein der Mittel eines Schriftstellers, das heißt, Beckett reflektiert sich selbst, er reflektiert die Sprache, lotet ihre Grenzen aus – und er reflektiert das, was man gewöhnlich Schreiben nennt. Beckett reflektiert das Leben, und er reflektiert die Kunst.

„Wie nun dieses Wissen aller um alles möglich und beschaffen ist, weiß ich nicht“, schreibt Keller, aber er formuliert es immerhin als Idee, ja, nicht nur als Idee, sondern auch als Ahnung, als etwas, das in ihm bereits dämmert, das in ihm aufgeht.

Die Klarheit und Helle des Bewußtseins, das so weit geht, auch das noch Unklare als noch Unklares wahrzunehmen.

Ich schließe diese unvollständige Überlegung hier ab, denn mein Zug geht in einer Stunde, ich schließe mit einem rätselhaften Satz ab:

Wer unter die Ignoranten fällt, unter die Sprachlosen und Unsolidarischen, wer unter die Wahrnehmungsschwachen fällt, wird blind, wird dumpf und bewußtlos.

Ich wollte zunächst sagen, wenn der Reiche unter die Räuber fällt, wird er arm, aber ich habe noch keine Räuber erlebt, die sich des geistigen Vermögens eines anderen bedient hätten. Von Reemstma wollten sie nur das Geld.

Und doch gibt es ein Gleichnis, das die geistlose Räuberei trifft: Die Schlussszene aus dem Film „Der Schatz der Sierra Madre“. Die Säcke mit dem Goldstaub fallen zu Boden. Ich weiß nicht mehr, ob die Räuber, die zugleich Mörder sind, die Säcke aufschlitzen, auf jeden Fall wird das Gold verweht, es wird vom Wind wieder zum Berg zurückgetrieben. Die Räuber bemächtigen sich der Lasttiere, sie nehmen die Mittel und versäumen den Zweck, ja, sie erkennen ihn noch nicht einmal.

 

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