Jemand, der offensichtlich Beckett sein soll, geht, die Aktentasche
unter dem Arm, eine berliner Straße entlang. Begleitet wird er auf der
Tonspur von einem italienischen Text, der Dantes Göttlicher Komödie
entnommen ist. Während die großen Worte fallen, rückt die Kamera,
akkurat-dokumentarisch, ein Türschild ins Bild (»Mittagstisch von
Montag-Freitag 12-15 Uhr«), vor allem aber das Schillertheater. Vor
dem erhabnen Bau sitzt Beckett und liest die BZ. Praunheim stellt im
Off krause Reflektionen an – etwa übers Fehlen eines biblischen
Belegs »für die Annahme, daß die Verteilung der [Tier-]Namen
Angelegenheit Dantes war«. – Neben der Figur Becketts und dem Text
Dantes wird türkische Volksmusik stilbildend eingesetzt; die Sängerin
wird mit ostentativem und originalem Beifall bedacht.
SAMUEL BECKETT ist das Experiment, fremde Stile zu verkuppeln.
Zum erstenmal schloß Praunheim seinen eigenen, exotisch-privaten
Bereich aus. Die emotionale Temperatur des Films ist entsprechend
gesunken. Der Einsatz von Kamera (Daniel Schmid) und von Text und
Ton (Werner Schroeter) mutet eher professionell an. Die Inhalte von
Bild und Ton kommen jedoch exotisch-naiv zusammen (Dante und die
BZ, Beckett und die türkische Folklore). Diese Kontakt-, um nicht zu
sagen: Kontaminations-Idee (Rosa von Praunheim) hat wohl auch die
Funktion gehabt, Praunheim, Daniel Schmid und Werner Schroeter mit
den Professionellen vom SFB (Redaktion: Dagmar Fambach)
zusammenzubringen. Sicherlich ist SAMUEL BECKETT auch als
strategisches Experiment gegenüber den Fernsehanstalten und ihren
Grenzen anzusehen. Die Grenzüberschreitung glückte zur Hälfte. Von
zwölf Minuten Film sendete Produzent Sender Freies Berlin knapp
sechs Minuten.
Der Film hatte die Funktion gehabt, eine neue Nische im offiziellen
Kulturapparat ausfindig zu machen. Und letzterer ließ sich das
wiederum widerstrebend, aber gern gefallen. Mit SAMUEL BECKETT
konnte sich das Fernsehen wieder eine bunte Feder an den Hut
stecken. SAMUEL BECKETT ist Bewegungsstrategie, kein bleibendes
Werk.
Dietrich Kuhlbrodt
Dieser Text ist zuerst erschienen in: Rosa von Praunheim; Band 30 der (leider eingestellten)
Reihe Film, herausgegeben in Zusammenarbeit mit der Stiftung Deutsche Kinemathek von Peter
W. Jansen und Wolfram Schütte im Carl Hanser Verlag, München/Wien 1984,
Zweitveröffentlichung in der filmzentrale mit freundlicher Genehmigung des Carl Hanser Verlags
SAMUEL BECKETT
BRD 1969
Regie, Idee, Schnitt: Rosa von Praunheim. – Kamera: Daniel Schmid. – Ton: Werner Schroeter. – Musik: Türkische Volksmusik. – Produktion:
SFB. – Redaktion: Dagmar Fambach. – Drehort: vor dem Schillertheater Berlin. – Format: 16 mm, sw. – Original-Länge: 12 min; ausgestrahlt
eine auf 6 min. gekürzte Fassung. – TV: 5.12. 1969 (SFB III).