Beckett in Kassel

Von Gottfried Büttner

Am 24. Mai 1963 schrieb mir Samuel Beckett aus Paris, er habe sehr gute Erinnerungen an Kassel, besonders an Wilhelmshöhe, und drei Jahre später, am 17. April 1966, er sei Ende der zwanziger Jahre und Anfang der dreißiger Jahre oft in der nordhessischen Stadt gewesen, wo er in der Landgrafenstraße bei Verwandten gewohnt habe. Er erinnerte sich gern an die langen Spaziergänge im Park Wilhelmshöhe. Was er damals nicht schrieb, war der Hauptgrund seiner Aufenthalte: Er liebte seine Kusine Peggy Sinclair, ein damals etwa 18 Jahre altes, lebhaft-attraktives Mädchen, das seit mehreren Jahren mit der Familie in Kassel lebte. Beckett kannte Ruth Margaret Sinclair, genannt Peggy, schon von Dublin her. Bei einem Zusammentreffen dort hatte er sich in sie verliebt. 
Wie tief diese Liebe ging, war lange nicht bekannt. Man wußte nur, dass die recht bürgerlichen Eltern von Samuel Beckett gegen jede freundschaftliche oder gar darüber hinausgehende Beziehung zwischen ihrem begabten Sohn und der Kasseler Verwandten waren. Denn die Sinclairs waren für die streng protestantischen Eltern Becketts nicht tragbar, obwohl Peggys Mutter die Schwester von Samuels Vater war. Sie hatte den jüdischen Kunst- und Antiquitätenhändler William Sinclair geheiratet, der mit seinem Bruder in Dublin ein Geschäft betrieb, sich politisch engagierte und im Übrigen eine bohèmehafte Lebensführung schätzte. So stand außer der nahen Verwandtschaft – die beiden waren Vetter und Base ersten Grades – auch die sozial abträgliche Unterschiedlichkeit der beiden Familien einer engeren Bindung entgegen. 
Als Beckett zu Weihnachten 1928 von Paris nach Kassel und nicht heim nach Dublin fuhr, waren seine Eltern verständlicher Weise gekränkt. Und ganz empört reagierte vor allem seine Mutter, als er zur Jahreswende 1930/31 beschloß, seine akademische Karriere zu beenden, und von Kassel aus an das Trinity College in Dublin telegrafierte, er käme nicht zurück. Später hat mir Beckett einmal erzählt, nachdem das mit den Unterrichten schiefgegangen sei, wäre es für ihn nur noch möglich gewesen, zu schreiben oder nichts zu tun.
Beckett hatte wirklich daran gedacht, seine Kusine zu heiraten. Ich weiß das von einer Freundin der jüngeren Schwester Peggys, einer Dame, die noch in Kassel lebt. Sie erzählte mir, als Schülerin wollte sie eines Tages ihre Freundin Nancy, mit der sie in die gleiche Klasse ging, von zuhause abholen. Da sagte diese: „Das geht heute nicht. Unser Vetter Sam ist zu Besuch. Er und Peggy wollen heiraten. Aber das geht doch nicht. Die Peggy sitzt daheim und weint.“
Beckett war eine Zeitlang hin- und hergerissen, ehe er seine Hoffnungen ganz fahren ließ. Peggy bezauberte ihn einerseits, er war verliebt in ihre Augen, ihre witzige deutsch-engllische Sprache, mit der sie die ganze Familie zum Lachen brachte, und sie war für ihn auch sexuell attraktiv. Aber er scheute zurück vor ihrer Lebhaftigkeit, ihrem Anspruch an ihn, und er scheute vor allem den Konflikt mit seiner Mutter. Doch in der Familie Sinclair fühlte er sich ganz zu Hause. Seine künstlerisch begabte Tante Cissy, sie war ausgebildete Kunstmalerin und spielte gut Klavier, liebte ihren Neffen, mit dem sie auch vierhändig Klavier spielte, wie einen Sohn. William, ihr Mann, spielte Geige und liebte es, mit seinem Neffen Sam in Kneipen zu gehen. 
Die Geschäfte für Becketts Onkel gingen damals übrigens sehr schlecht. Eigentlich wollte er avantgardistische Bilder kaufen und nach Dublin schicken, doch die Zeiten waren schwieriger geworden, und er mußte Sprachstunden geben. An der Wohnungstür stand: „Lehrer der englischen Sprache“, und ich habe von einer Schülerin gehört, dass sie ihn überaus geschätzt hat. Peggy hatte noch eine ältere und zwei jüngere Schwestern sowie einen jüngeren Bruder. Mit allen verstand sich Samuel Beckett sehr gut, und sie liebten den freundlichen jungen Vetter alle sehr.
Beckett hielt sich fünfmal bei seinen Verwandten in Kassel auf, manchmal wochen- und monatelang. Er lernte mehr und mehr Deutsch, was er nicht studiert hatte, denn er war Romanist und lehrte Französisch, sprach Italienisch und Spanisch. Doch die deutsche Sprache und Kultur bedeutete ihm lebenslang sehr viel. Er kannte die deutsche Literatur, liebte vor allem Hölderlin, aber auch Goethe, Schiller und Christian Morgenstern. Er konnte viele deutsche Gedichte auswendig. Besonders schätzte Beckett Fontane und übrigens auch Ernst Barlach, der nicht nur als Bildhauer für ihn beeindruckend war, sondern auch als Dramatiker. Er wunderte sich, dass Barlach in Deutschland so wenig gespielt wurde.
Seine Vertrautheit mit deutscher Sprache und Dichtung führte nach dem Zweiten Weltkrieg dazu, dass er seine eigenen großen Stücke auf Einladung des Generalintendanten Barlog im Berliner Schillertheater selbst inszenieren konnte. Ernst Schröder hat berichtet, Beckett habe seine Stücke auf Deutsch auswendig gekonnt und habe ihn auf einer Probe unterbrochen: „Hier haben Sie ein ‚und‘ vergessen.“
Meine Frau und mich hat Beckett einmal zu einer „Endspiel“-Probe ins Schillertheater mitgenommen. Wir konnten vor der Aufführung mit einigen der Schauspieler sprechen, mit Ernst Schröder, Gudrun Genest, Horst Bollmann, alle waren von der Regiearbeit Becketts begeistert: Freundlich, konsequent, präzise sei er, und so sei die Arbeit eine Freude.
Seine ersten Schritte in den deutschen Kulturraum hat Beckett mit der Hilfe seiner Verwandten getan. Er hat sie sogar noch besucht, als seine Bindung an Peggy aus den genannten Gründen abgebrochen war. Peggy erkrankte später an Lungentuberkulose und starb am 3. Mai 1933 bei einem Kuraufenthalt in Bad Wildungen südlich von Kassel. Das Datum ging, wie Erika Tophoven herausgefunden hat, in Becketts Stück „Das letzte Band“ als „Schachtel drei, Spule fünf“ ein. Dieses Stück, entstanden „aus einem Haufen alter Notizzettel“, enthält sehr viele Reminiszenzen an Peggy Sinclair, beispielsweise eine Bemerkung über ihren schäbigen grünen Mantel auf dem Bahnsteig (in Kassel!) beim Abschied. Es gibt Beweise dafür, dass seine Kusine grüne Kleidungsstücke bevorzugte. In einem frühen Roman Becketts, der erst posthum unter dem Titel „Dream of Fair to Middling Women“ veröffentlicht wurde, taucht Peggys grüne Baskenmütze auf. Es gibt ein Porträt von Peggy Sinclair, das der 1931 in Paris durch Selbstmord umgekommene Kasseler Künstler Karl Leihausen gemalt hat: Darauf trägt sie einen grünen Pullover und auch die literarisch verewigte Baskenmütze. Außerdem habe ich eine alte Dame kennengelernt, die, als sie eine Schneiderlehre machte, für Peggy Sinclair ein grünkariertes Kostüm angefertigt hat. Damals ging man als Schneiderin noch ins Haus der Kundin. Peggy sei, so sagte mir das ehemalige Schneidermädchen, schon sehr schlank und durchsichtig gewesen, und sie habe ihr während der Anprobe ein Glas Orangansaft bringen müssen. Das Haar habe sie, was damals ganz ungewöhnlich war, lang bis auf die Schultern getragen. Bald darauf habe sie dann gehört, dass die junge Dame an Tuberkulose gestorben sei.
Den schönsten Tribut hat Beckett seiner ersten Liebe gezollt, indem sich Krapp im „Letzten Band“ zweimal eine Szene auf dem Tonbandgerät vorspielt, in dem seine Liebesbeziehung geschildert wird. Sie spielt in einem schwankenden Kahn. Ohne den gescheiterten Dichter Krapp mit Beckett, der, als er dieses Stück schrieb, schon ein gefeierter Dramatiker war, vergleichen zu wollen, kann man jene Liebesszene im Boot als biografisch bezeichnen. Es gibt kaum eine zartere, sensiblere und anrührendere literarische Liebesszene, die zugleich ihr Mißlingen einschließt. Eindringlich zart, melancholisch und vom Verzicht überschattet, verbreitet sie ein stilles Licht über dieses Drama des menschlichen Elends einer gescheiterten Existenz. Beckett selbst ist nie wieder nach Kassel zurückgekehrt, weil er, wie er bekannte, „dort seine erste große Liebe erlebt“ hatte.
Er hat allerdings auch noch eine andere, heitere Erinnerung an Peggy literarisch verarbeitet. In einer Sammlung von Erzählungen, die erstmals 1934 veröffentlicht wurden, ist eine enthalten, die „The Smeraldina’s Billet Doux“ heißt. Diese Geschichte fußt auf den witzigen Liebesbriefen, die Beckett von seiner Kusine erhielt. Er nannte seine Kusine „Smeraldina Rima“, während sie ihn „Bel“ titulierte. Diese Briefe Peggys sind in einem komischen deutsch-englischen Kauderwelsch geschrieben. Zum Beispiel: „I don’t genau know …“ oder „when I see everything more clearer“. Verständlich, dass die Familie Sinclair nicht begeistert war, als Samuel Beckett schon ein Jahr nach Peggys Tod ihre Liebesbriefe benutzte und sie zu Literatur verarbeitete. Der Verhältnis zu „Sam“ wurde dennoch nicht nachhaltig getrübt.
Die Familie Sinclair verließ Kassel mit Anbruch der Nazizeit. Beckett selbst erlebte diese Zeit mit Abscheu, als er sich vom Herbst 1936 bis Frühjahr 1937 in Deutschland aufhielt. Damals dachte er an eine Karriere als Museumsfachmann. Es besuchte alle wichtigen Bildergalerien in Deutschland und interessierte sich besonders für die aus den Museen verbannten Bilder der „Entarteten“. In Dresden lernte er den bedeutenden Kunstkritiker Will Grohmann kennen, der damals eben entlassen worden war, und in München besuchte er nicht nur die Pinakothek, sondern auch den von ihm geschätzten Komiker Karl Valentin.
Als ich ihn einmal fragte, ob er sich hätte denken können, in Deutschland zu leben (denn damals hatte er sich schon für immer in Frankreich niedergelassen), meinte er, das glaube er nicht. Was er an den Franzosen so schätze, sei, dass sie jeden so leben ließen, wie es ihm gefalle. Offensichtlich erwartete er diese Toleranz nicht von meinen Landsleuten. 
Während des Krieges hat sich Beckett mit seinen französischen Freunden bekanntlich in der Résistance engagiert. Er war ein überzeugter Gegner von Rassismus und Totalitarismus und damit auch des damaligen Deutschen Reiches. Dennoch hat er es nach dem Zweiten Weltkrieg keinen seiner deutschen Freunde oder Bekannten spüren lassen, dass er damals „auf der anderen Seite“ gestanden hatte. Ressentiments waren ihm fremd. Er beurteilte, wenn überhaupt, jeden Menschen nach seinen individuellen Eigenschaften.
Beckett hat sich in den sechziger Jahren bei mir danach erkundigt, ob das Haus, in dem er so oft bei seinen Kasseler Verwandten zu Besuch geweilt hatte, den Krieg überstanden habe, da die Stadt 1943 von Bomben weitgehend zerstört worden war. Das Haus Landgrafenstraße 5 steht noch, auch wenn diese Straße inzwischen Bodelschwinghstraße heißt. Was dem Haus jedoch bis heute fehlt, ist eine würdige Gedenktafel, die an die für den jungen Beckett so wesentlichen Aufenthalte erinnert. Der jetzige Hausbesitzer hat sich bisher geweigert, diese Erinnerungstafel an den irischen Dichter und Nobelpreisträger anbringen zu lassen.
Der Kasseler Arzt und Anglist Dr. Gottfried Büttner war über zwanzig Jahre mit Samuel Beckett befreundet. 1968 veröffentlichte er „Absurdes Theater und Bewußtseinswandel“, später „Samuel Beckett’s Roman ‚Watt'“ sowie in mehreren Sammelwerken weitere Essays über Beckett.

 

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