Rezension: Szenische Lesung von Becketts „Glückliche Tage“ (21. u. 22.08.2020)

Montag, 24. August 2020, Hessische Allgemeine (Kassel-Mitte) / Kultur Kreis Kassel

Als Ich-Larve im Erdloch

Furiose Lesung des Zweiakters „Glückliche Tage“ von Samuel
Beckett im Dock 4

VON GESA ESTERER

Furios: Sabine Wackernagel und Valentin Jeker in der szenischen Lesung „Glückliche
Tage“. Foto: Dieter Schachtschneider

Kassel – Am Ende der Hoffnung, wenn eine Lebenssituation ausweglos ist, beginnen manche Menschen, das bedrückende Sein zu idealisieren, um dieses nicht aushalten zu müssen. Winnie, die Protagonistin des Zweiakters „Glückliche Tage“ von Samuel Beckett,
steckt wie eine Larve in einem Erdhügel fest, kann nur noch Arme, Beine, Kopf bewegen, ist Gefangene ihrer selbst, schwärmt trotzdem von einem „himmlischen Tag“, putzt die Zähne. Ihr Mann Willie liegt hinter dem Hügel und schläft, ist für Winnie nicht
sichtbar.

Sabine Wackernagel und Valentin Jeker präsentierten in Zusammenarbeit mit der Samuel Beckett Gesellschaft am Freitag vor etwa 50 Personen im Dock 4 eine szenische Lesung des 1961 uraufgeführten Theaterstücks des irischen Nobelpreisträgers.

Ausgestattet mit wenigen Requisiten saßen die Kasseler Schauspieler jeweils an einen Tisch, Winnie im schwarzen Spitzenkleid, Willie im schwarzen Anzug, fein gemacht, als wollten sie ein Fest feiern. Während Sabine Wackernagel als 60-jährige, meist strahlende
Winnie die Monologe wie glänzende Perlen formte, brillierte Valentin Jeker mit der Lesung der Zwischentexte sowie der wenigen Worte des einsilbigen 70-jährigen Willies.

Ohne Übergang reiht das Theaterstück Szene an Szene, Absurdes an Absurdes. Winnie kramt permanent in ihrem „Sack“ nach den Resten ihres Lebens, holt Spiegel, Lippenstift, Brille hervor, dazu einen Revolver, legt diesen neben sich. Meist zu sich selbst redend
springt Winnie hin und her zwischen dem Versuch, die Aufschrift auf der Zahnbürste zu lesen, und Gedanken an Willie, ob er gemütlich liege, ob er sie sehen könne, ihr sei heute die Erde zu eng. Zudem fragt Winnie, ob sie einst liebenswert gewesen sei, erinnert
an den ersten Ball, den guten Stil, sagt, es würde wieder ein glücklicher Tag werden.

Im zweiten Akt reicht die Erde Winnie bis zum Hals. Nicht mal nach dem Revolver neben sich kann sie greifen. Sie möchte wissen, wie lange sie Willie nicht gesehen hat, hört Geräusche, scheint durcheinander, singt die Melodie ihrer Spieldose. Plötzlich kriecht Willie auf allen Vieren hinter dem Hügel hervor. Willie und Winnie sehen sich an.

Die furiose Lesung des Stücks „Glückliche Tage“ von Sabine Wackernagel
und Valentin Jeker zog das hochkonzentrierte Publikum
mitten ins Geschehen. Deutlich wurde, wie wenig absurd das Absurde
ist. Ein ergreifender, wunderbarer Abend. Viel Beifall.

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