Büchner-Preis für Jürgen Becker

Eine Erinnerung an eine gar treffliche Stelle aus Jürgen Beckers RÄNDER, eine Stelle, die für mich meine Erfahrungen im Studium an der Kunsthochschule Hamburg zum Ausdruck brachte. Der folgende Text handelt vom Tun, vom Tun an sich, vom Tun ohne Inhalt:

Montag, 21. Mai 2012, 13:09. Soeben gefunden bei Frank Lübberding. Ein Zitat, das auch zu meinem Artikel von gestern passt:

>>Es ist wirklich faszinierend. Images sind die wichtigste Währung in der modernen Medienwelt. Inhalte sind irrelevant.<<

Aktion ohne Inhalt

>>Als es anfing, war noch gar nicht zu übersehen, um was es denn nun eigentlich ging. Als es soweit war, sagte jeder, es ist gut, daß es soweit ist. Als es dann weiterging, ging es natürlich mit den ersten Schwierigkeiten los. Als es plötzlich stockte, wurde hin und her probiert, bis es plötzlich weiterging. Als es dann auch ziemlich klappte, hatte keiner mehr was dagegen.

Erzähl doch weiter.

Ja und als dann nichts mehr dazwischen kam, dachte schon keiner mehr dran. Als dann wieder ein paar Kleinigkeiten vorkamen, nun ja, wer achtet schon immer auf Kleinigkeiten. Als es schlimmer wurde, machte man sich schon ein paar Gedanken. Als man aber sah, was los war, wer sollte denn da nun was ändern. Als es nämlich plötzlich drunter und drüber ging, da hatte jeder andere Sorgen im Kopf. Dann, als alles aus war, sah es ja auch ganz anders aus, als man am Anfang gedacht hatte. Als es nämlich angefangen hatte, war doch gar nicht zu übersehen gewesen, um was es denn nun eigentlich gehen sollte. Erst als es soweit war, erst dann sagte jeder, es ist ganz gut, daß es soweit ist.<<

Dieses Zitat findet sich im 1968 erschienenen Buch RÄNDER von Jürgen Becker (die Rede ist hier nicht vom Kabarettisten aus den Mitternachtsspitzen); es war das Jahr, in dem ich an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg am Lerchenfeld mit dem Studium begann. Während wir in der Grundklasse von Fritz Seitz noch Aufgaben gestellt bekamen, die wir bildnerisch oder skulptural umsetzen beziehungsweise lösen mussten, herrschte später bei Kilian Breier in der Fotoklasse eher Ratlosigkeit, und zwar nach der Devise: Was können wir denn nun mal machen?

So orientierungslos das auch klingen mag, so charakterisiert es doch einen Aspekt künstlerischen Schaffens: Der Künstler hat niemanden über sich, der ihm sagt, was er zu machen hätte. Während meiner Lehrzeit, meiner Berufstätigkeit und während der Zeit am Hessenkolleg in Kassel, an dem ich das Abitur nachholte, war ZEIT vorstrukturiert, ihre Ordnung war wie ein Fahrplan vorgegeben.

Lernen, die Tage sich selber mit Inhalten zu füllen, sich selber eine Tätigkeit zu setzen, etwas Bestimmtes anzufangen und dies auch durchzuhalten, Konsequenz zu entwickeln, waren gleichsam die sekundären Fähigkeiten, die man mit einem Kunststudium erwarb. In der Sprache der alltäglichen Arbeitswelt heißt das: sein eigener Chef zu werden.

Ich sage das einerseits, um für die Offenheit des Arbeitens im künstlerischen Bereich Verständnis einzuwerben, andererseits, um darauf hinzuweisen, dass es bei einer unbestimmten, inhaltlosen Offenheit nicht bleiben kann. Sie ist für mich ein Ausdruck von Unreife oder ein Ausdruck jener Orientierungslosigkeit, in die hinein die politische Propaganda ihre Signale sendet, um die Menschen nach ihrem Belieben zu manipulieren.

Eine solche Manipulation hat die SPD unter der Schröder-Regierung versucht, und zwar mit einer Plakat-Kampagne, in der verkündet wurde:

DEUTSCHLAND BEWEGT SICH!

Unterschwellig sollte suggeriert werden, dass die inhumanen, kriminellen Hartz-IV-Reformen Ausdruck von Bewegung sind, und Bewegung ist immer gut. Meinem durch ein Literaturstudium versautem Bewußtsein kam natürlich sofort Wolfgang Köppen in den Sinn, genauer sein Roman TOD IN ROM, in dem er die Nazis wie folgt charakterisiert: „Hauptsache geradeaus, die Richtung war egal.“

Mir fiel vor Jahren, als die Plakataktion der Schröder-SPD lief, sofort das Foto eines Todesmarsches der Nazis ein. Deutschland bewegt sich. Durch die Veränderung des Kontextes bekam der Satz „Deutschland bewegt sich“ eine gänzlich andere, zynische Bedeutung – und dieser Zynismus war angesichts des Sozialabbaus in Deutschland in der SPD-Kampagne angelegt.

Die Philosophie Hegels lehrt jene, die sie studieren, dass die Bedeutung eines Begriffs durch andere Begriffe bestimmt wird, die wiederum durch weitere Begriffe bestimmt werden. Das ist der Kern des System-Gedankens: Erst die Totalität der Begriffe, erst die Summe aller Begriffe erklärt die Bedeutung eines einzelnen, verleiht ihm einen differenzierten Inhalt. – Im Gegensatz zum Motto des eben zu Ende gegangenen Katholikentages: „Einen neuen Aufbruch wagen!“

Im Alter von 8 Jahren packte mein Cousin sein kleines Köfferchen, wanderte damit zum Bahnhof unseres Dorfes und wollte mit dem Zug zum Reichsparteitag nach Nürnberg reisen. Er hatte, indem er den Koffer packte und seine Eltern verließ, den Aufbruch gewagt, wobei sein kindliches Gemüt wohl dabei nicht vom Gedanken des Wagnisses bestimmt war.

Sprache wird oft, besonders die der Propaganda, in einem allgemeinen, unbestimmten Sinne verwendet, und sie wirkt, weil die Menschen nicht in der Lage sind, auf den Gebrauch von Sprache zu reflektieren. Wenn ich zum Beispiel meinen Koffer packe und mit dem Zug nach Paris fahre, wo mich ein reserviertes Zimmer erwartet, kann man wohl kaum davon reden, dass ich einen Aufbruch wage. Ein Wagnis ist nur da, wo der Ausgang meiner Handlung ungewiss ist.

Sprache ohne Inhalt wird – wie bei Angela Merkel – zur Phrase. Wenn auch nicht phrasenhaft, so reflektiert Jürgen Becker im obigen Zitat auf Inhaltslosigkeit, und ich hatte damals – als Kunststudent – das Gefühl, er gibt das Herumgestochere, die Suche nach inhaltlich erfüllten, sinnvollen Tätigkeiten an einer Kunsthochschule Ende der 60er Jahre exakt wieder.

Erzähl doch weiter.

Vor ein paar Wochen las ich nun in unserer großen, regionalen Tageszeitung einen wunderbaren, fraglos wunderbaren, fraglosen Artikel von Mark-Christian von Busse über den Chef der Ausbildung der Guides der documenta 13. Der Leiter der Ausbildung heißt nun aber nicht Leiter, sondern Dean, genauer gesagt: Dean of School for Wordly Companions. Hätte ich nicht diesen unwiderstehlichen Hang zu einer differenzierten, fein gewählten Sprache, würde ich sagen, was für eine gequirlte und gestelzte Scheiße, aber ich verbiete mir diese ordinäre Ausdrucksweise.

Der Dean heißt Jakob Schillinger, und auf dem Foto, welches ihn vor dem Fridericianum zeigt, wirkt er ausgesprochen sympathisch. Man erfährt in dem HNA-Artikel von Mark-Christian von Busse, dass Jakob Schillinger den Begriff Vermittlung vermeiden möchte und statt dessen lieber Dialog sagt*.

Nun denn, in Schillers (nicht in Schillingers) Briefen zur ästhetischen Erziehung des Menschen heißt es, dass der umfassend Gebildete und Ausgebildete in der Lage ist, mühelos die Klaviatur zu wechseln beziehungsweise das Instrument, das heißt, er hat es nicht nötig die Begriffe Vermittlung und Dialog zu polarisieren, in ihnen Gegensätze zu sehen, sondern er geht mühelos von der Vermittlung zum Dialog und vom Dialog zur Vermittlung über, je nach dem, was in einer Situation angemessen wäre. Und dann gibt es nicht wenige Menschen, die man durch die documenta führt, von denen man etwas lernen kann. Zum Ende der Ausstellung sollte man die Exponate differenzierter sehen als zu Beginn.

Man erfährt aus dem Artikel, dass die documenta-Leiterin, kurz CCB genannt, in klarer Form Ideen verfolgt. Über den Inhalt der Ideen, mal an einem Beispiel, erfährt man nichts. Dafür um so mehr über eine prägende Erfahrung, die Jakob Schillinger in New York machen konnte: Er war dort Mitinitiator des experimentellen Ausstellungsraums „Exhibition“. Ich zitiere: „In einem leer stehenden Ladenlokal stellten 65 Künstler nacheinander je drei tage nach festen regeln aus: Sie durften alles im Raum nutzen, verändern, Dinge hinzufügen, musste aber selbst alles dalassen. Ein halbes Jahr totaler Wahnsinn, sagt Schillinger. Es gab weder Budget, noch Werbung, doch viel Aufmerksamkeit in der Kunstszene.“

Man fragt sich unwillkürlich, ob es in diesem Ladenlokal auch um Inhalte gegangen sein mochte und welche Inhalte es gewesen sein könnten. Ansonsten evoziert diese Schilderung von Schillinger den Eindruck eines leeren Aktionismus. Das l’art pour l’art ist quasi um eine weitere Stufe geschrumpft, und zwar zu einer Aktion um der Aktion willen.

Da konnte man doch froh sein, dass endlich mal was los war. Und noch dazu in New York. Beckett kam auch vorbei und brachte einige Stücke mit: Kommen und Gehen, Hin und Wieder, Vor und Zurück.

„Something is taking its course.“

Auch wer auf der Stelle tritt, bewegt sich.

Inhalte ist der sympathisch wirkende Jakob Schillinger zumindest dem Leser der HNA schuldig geblieben.

*>>Nur einmal sagt Schillinger beim Gespräch im Café aus Versehen „Vermittlung“, denn diesen Begriff für die Führungen vermeidet die documenta 13 gerade. Stattdessen sollen Dialoge in Gang gesetzt werden, in denen Besucher zwar auch ihre Abwehrhaltung und Vorurteile äußern können, bei denen sie aber nicht verharren sollen: Vorbehalte sollen nicht ungeprüft stehen bleiben.<<

Es soll zwar keine Vermittlung geben, aber trotzdem ist diese Sprache lehrerhaft: In den staatlichen Lehrplänen beziehungsweise in den Schriften, in denen Lernziele angegeben werden, wimmelt es von Sollbestimmungen: Der Schüler soll – ja eben, und dann der Besucher auch.

Quelle: HNA, KulturKreisKassel, 13. April 2012 beziehungsweise http://www.hna.de/documenta-13/koepfe/fragen-kunst-funktioniert-2274716.html

 

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