George Steiner Werke I bis V

Deutschlandfunk – Büchermarkt
Beitrag vom 27.04.2014 16:10 Uhr
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Der amerikanische Literaturwissenschaftler und Schriftsteller George Steiner sitzt in der Frankfurter Paulskirche.
BUCH DER WOCHE
Hoffnung auf den unermüdlichen Leser

Von Roland H. Wiegenstein

Der Kulturkritiker George Steiner schreibt für aufmerksame und gebildete Zeitgenossen: Seine fünfbändigen „Werke“ geben einen Eindruck von den vielfältigen Interessen des Gelehrten. Steiner untersucht das bürgerliche Trauerspiel, für das er zu einem ernüchternden Fazit kommt.

Von dem Kulturkritiker George Steiner, der in diesem Jahr fünfundachtzig Jahre alt wird, stammt das geflügelte Wort von der „Suhrkamp-Kultur“, die seine großen Verleger, der Namensgeber Peter und sein Nachfolger Siegfried Unseld in der Tat zu dem gemacht haben, was man in Politikerreden gern einen „Leuchtturm“ nennt. Die fünfbändige Taschenbuch-Ausgabe Steiners, die nun erscheint, enthält, wenn schon nicht das ganze umfangreiche Werk, so doch jenen beträchtlichen Teil, dessen Rechte bei diesem Verlag liegen. Zwischen 1973 und 1992 erschienen, geben sie einen Eindruck von den vielfältigen Interessen des Gelehrten, der immer wieder durch die unerbittliche Genauigkeit verblüfft, mit der er Texte zu lesen und zu interpretieren weiß. In einem Vorwort für deutsche Leser zu dem, wie alle übrigen in englischer Sprache geschriebenen Band „Sprache und Schweigen“, dem zweiten dieser Werkausgabe, der literarische Essays und Kritiken enthält, hat er sich selbst vorgestellt:

Mein Vater stammt aus einem kleinen Dorf nördlich von Prag. Er kam in jungen Jahren nach Wien, später machte er Karriere in Paris und New York. Diese Wanderschaft, diese Verquickung des Privaten mit den Weltkrisen, lässt seine persönliche Existenz als typisch für unser verworrenes Jahrhundert erscheinen. Er starb als Reisender. Meine Mutter ist Wienerin. Ihre Vorfahren kommen teils aus Osteuropa, teils aus dem Elsass und die Vielfalt der Kulturen und Sprachen haben ihr Naturell geprägt. Ich wurde in Paris geboren und ging dort auf eine amerikanische Schule. In New York, wohin ich im Krieg übersiedelte, besuchte ich das französische Lyzeum, das damals, in dieser Periode des Exils, hervorragende Lehrer hatte. Beendet habe ich meine Ausbildung in Oxford, und seit einigen Jahren lebe ich meist in England.

Vor Oxford, so muss man ergänzen, hatte er in Chicago und an der Havard Universität studiert. Er war von 1956 bis 1958 Redakteur, lehrte dann in Princeton und ab 1961 in Cambridge. 1974 wechselte er an die Universität in Genf und kehrte nach seiner Emeritierung zuerst ans St. Ann’s College in Cambridge und später nach Havard zurück. Er ist englischer Staatsbürger und – Jude. Dies war es, was zunächst seine Eltern und dann ihn selbst zum „Wanderer“ machte, der in drei Sprachen flüssig parlieren kann und vermutlich weitere zehn lesen und den nichts so sehr umtreibt, wie die Shoa: die Vernichtung der Juden.

Wir wissen, dass jemand Goethe und Rilke am Abend lesen kann und morgens an sein Tagwerk in Auschwitz geht.

Dies ein grausiger Widerspruch hat ihn zeitlebens nicht ruhen lassen, es hat auch sein erstes Buch unserer Reihe geprägt, „Der Tod der Tragödie“: Er wollte wissen, was Tragödien eigentlich sind angesichts dessen, was man nun als gebildeter Zeitgenosse eher leichthin als „Tragödie“ zu bezeichnen pflegt: den industriell vollzogenen Mord an sechs Millionen Juden.

Was vernichtet worden ist – die gewaltige Menge verhöhnten, lächerlich gemachten und bis zu einem Maße in die Vergessenheit gestoßenen Lebens, dass selbst der Namen getilgt wird und das Totengebet ohne Halt bleibt – verkörperte einen bestimmten Geist, eine Intelligenz- und Gefühlseigenschaft, die von keiner der jetzt überlebenden jüdischen Gemeinden bewahrt oder wiedererlangt worden ist. Weil ich dieses spezifische Erbe so nachdrücklich in mir spüre, in meinen Reflexen und in der Arbeit, um die ich mich bemühe, bin ich heute eine Art Überlebender.

Bilanz eines Lebens
So steht es in „Sprache und Schweigen“ In den 1999 erschienenen „Errata“, dieser „Bilanz eines Lebens“ heißt es.

Juden existieren gegen die gefräßigen Diktate und Maßnahmen von Tyranneien, feindlichen Glaubensrichtungen und Massenbewegungen wie den blutrünstigen Mob des mittelalterlichen Christentums oder den Pogromen in den osteuropäischen Ländern und Russland. All das wurde ausdrücklich in Gang gesetzt, um die Juden aus der Menschheit auszulöschen.

Was aber ist es, was die Jahrhunderte alte bis hin zum entsetzlichen Höhepunkt der Shoa sich steigernde Judenverfolgung wenn schon nicht erklärlich dann doch, wie Steiner immer wieder schreibt, metaphysisch deutbar macht? In „Blaubarts Burg“, dem dritten der Werkbände, findet sich Sätze, in denen Steiner dem für ihn tiefsten Grund dessen auf der Spur ist:

Was wir uns aufs Neue einprägen müssen, und zwar so einfach und unverhüllt wie möglich, ist die Einzigartigkeit, die hirnzermürbende Unfasslichkeit der neuen, monotheistischen Idee. Durch die Abruptheit der mosaischen Offenbarung, durch die Endgültigkeit der Glaubenssatzung zu Sinai ist die menschliche Psyche samt ihren ältesten Wurzeln aus dem vertrauten Boden gerissen worden. Solcher Bruch ist nie mehr vollständig verheilt.
Historisch besehen, haben die Forderungen des absoluten Monotheismus sich als nahezu untragbar erwiesen. (…) Erst das paulinische Christentum hat solchem Konflikt die brauchbare Lösung gefunden, indem es manche Züge vom Idiom und von der auf eine Mitte bezogenen, symbolischen Eigenart des Monotheismus beibehielt, gewährte es doch den Spielraum für die pluralistischen, aufs Bildhafte gerichteten Bedürfnisse der Psyche. (…) Die christlichen Kirchengemeinschaften sind mit ganz wenigen Ausnahmen Bastard-Gebilde aus monotheistischen Idealen und polytheistischen Praktiken gewesen. Eben dieser Umstand hat ihre Geschmeidigkeit und synkretistische Kraft bewirkt.

Drei Herausforderungen der Menschheit
Steiner kommt immer wieder darauf zurück: den Monotheismus. Er rechnet ihn zu den drei Herausforderungen der Menschheit, gegen die diese sich immer wieder gewehrt hat: den jüdischen Monotheismus, das totale Armut befehlende frühe Christentum und Marx eschatologischen Sozialismus. Drei zu schwere Bürden.In seinen Büchern sind sie immer im Hintergrund anwesend. Es ist kein Wunder, im „Der Tod der Tragödie“, dem Wesen des Tragischen in einer so genauen wie weitgreifenden Untersuchung nachging.

Die Darstellung des persönlichen Leidens und des Heldentums, die wir tragisches Drama nennen, ist der abendländischen Tradition eigentümlich. Sie ist so sehr zu einem Teil unseres Empfindens für die Möglichkeiten menschlichen Verhaltens geworden, die Orestie, der Hamlet und die Phedre sind so stark mit unseren geistigen Gewohnheiten verknüpft, dass die Darstellung des persönlichen Leidens und des Heldentums, die wir tragisches Drama nennen, der abendländischen Tradition eigentümlich ist, zu einem Teil unseres Empfindens für die Möglichkeiten menschlichen Verhaltens geworden; die Orestie, der Hamlet und die Phedre sind so stark mit unseren geistigen Gewohnheiten verknüpft, dass wir vergessen, welch eine sonderbare und komplizierte Idee es ist, persönlichen Schmerz auf offener Bühne darzustellen. Die Idee und die Auffassung vom Menschen, die sie voraussetzt, ist griechisch.

Er folgt den tragischen Stücken, von den Griechen bis ins 20. Jahrhundert:

Doch wenn wir die fünfundzwanzig Jahrhunderte überblicken, die uns von der griechischen Tragödie trennen, fällt uns auf, dass die Geschichte sehr wenig sichtbare Kontinuität oder Tradition besitzt. Was uns Eindruck macht, sind gelegentliche, fast wunderbare Erscheinungen. (…) Aus der Dunkelheit tauchen Kräfte auf, vereinigen sich und schaffen Konstellationen von intensivem Glanz und ziemlich kurzer Lebensdauer. Solche Hoch-Zeiten traten im Perikleischen Athen, in England zwischen 158o und 1640, im Spanien des 17. Jahrhunderts, in Frankreich zwischen 1630 und 1690 auf. Danach scheint das notwendige Zusammentreffen von historischer Szene und persönlichem Genius nur noch zweimal stattgefunden zu haben: in Deutschland in der Zeit von 1790 bis 1840, und verstreuter um die letzte Jahrhundertwende, als die besten skandinavischen und russischen Dramen geschrieben wurden.

Von Aischylos bis in die Gegenwart
Dieser Tradition folgt er, in dem er die Stücke selbst analysiert von Aischylos bis in die Gegenwart, in dem er zeigt, wie sich das Tragische selbst ändert, wobei er klar macht, welche gesellschaftlichen Veränderungen die Unterschiede zwischen Racines „Phèdre“ und etwa Ibsen bestimmen. Es ist nicht allein der Stil, es sind nicht allein die Dichter, die Tragödie machen:

In Athen, in Shakespeares England und in Versailles waren die Hierarchien der weltlichen Macht stabil und offenbar.(…) Daher ist die natürliche Szene der Tragödie das Palasttor, der öffentliche Platz oder der Gerichtssaal. (…) Fürsten und Partiegruppen stießen auf offener Straße zusammen und starben auf dem öffentlichen Schafott. Mit dem Aufstieg der Mittelklasse zur Macht verschob sich der Schwerpunkt der menschlichen Beziehungen von der Öffentlichkeit zum Privaten.

George Steiner fordert den aufmerksamen, den geduldigen Leser – und nicht zuletzt: den gebildeten. Zeitgenossen, die sich in der Dramengeschichte nicht auskennen, allenfalls Schiller und Goethe einmal gelesen haben, haben es schwer mit den vielen Barock-Dichtern, mit Corneille, Racine, und den zahllosen englischen Dramatikern, eben nicht nur Shakespeare, die Steiner untersucht. Sein Fazit für die Zeit dessen, was man „bürgerliches Trauerspiel nennt, ist ernüchternd:

Ibsen und Tschechow waren Revolutionäre, deren Leistung eine Rückkehr zu den Schimären der Vergangenheit hätte unmöglich machen müssen. (…) Die Qualen der Vernunft fordern weder Palast noch Markt; sie werden in modernen Wohnzimmern ausgespielt. Die modernen Tragödienversuche werden durch völliges ein Versagen der Kühnheit beeinträchtigt. Die tragischen Dichter unserer Zeit sind Grabräuber und Zauberkünstler, die die Geister aus der vergangenen Pracht heraufbeschwören. (…) Auseinandersetzungen über die Natur der Tragödie, Kämpfe zwischen Vers und Prosa, zwischen der klassischen und der offenen Form – das ganze Gepäck verstaubter Theorien wird wieder herausgeholt, lange nachdem Ibsen und Tschechow gezeigt haben, dass es für den modernen Geist unerheblich ist.

Die Bücher sind sein Leben
Diesem modernen Geist nachzuspüren, hat er nie aufgegeben, stets kritisch und oft so dezidiert, dass es manche Leser zum Widerspruch provozierte. Das hat ihn nicht gehindert: er las und interpretierte weiter; die Bücher sind sein Leben.

Die Beschäftigung ein Buch zu lesen, für sich allein und schweigend, ist eine Entwicklung der späten geschichtlichen Vergangenheit. Er schließt eine Reihe wirtschaftlicher und sozialer Vorbedingungen ein: ein eigenes Zimmer, zumindest eine Wohnstatt, die so geräumig ist, dass man sich in Ruhe zurückziehen kann; den Besitz von Büchern, verbunden mit dem Recht, ein seltenes Buch, das einem teuer ist, vor der Benutzung durch andere Menschen zu bewahren; elektrisches Licht für die Abendstunden und was sonst noch für den bürgerlichen Lebensstil im industriellen, städtischen Komplex von Werten und Privilegien selbstverständlich ist.

Langsamkeit und Stille sind ihm so wichtig, dass er die Massenkultur heftig ablehnt:

Es liegen Anzeichen dafür vor, dass die zeitgenössische Massenkultur und die elektronischen Medien der Kommunikation mit ihrem Sturmangriff auf alle Reserven der Stille die Bildungsbeschaffenheit derart verändern, dass sich am Ende die „nicht-privaten“ Formen behaupten. (…) Der Durchschnittsmensch geht mehr und mehr dazu über, nur noch die Bildunterschriften der diversen graphischen Spielarten zu lesen. Das Wort als bloßer Diener für den Sinnesschock.

Doch was man für wohlfeile „Kulturkritik“ jener leicht grämlichen Leute halten könnte, die es traditionsbewusst immer schon besser wussten, hat Steiner auch nicht viel übrig, er ist genauer und dialektischer. So weist immer wieder auch auf die leicht vergessene Tatsache hin, dass erst in der Moderne Millionen Menschen auf der ganzen Welt zum ersten Mal Lesen und Schreiben lernten, dass dem Verflachen humanistischer Bildung ein enormer Aufschwung naturwissenschaftlicher Forschung entspricht, die mit großer Phantasie und Klugheit in Bereiche vorgestoßen ist, die den bloßen Geisteswissenschaftlern verborgen bleiben; dass in den fortgeschrittensten Wissenschaften: Mathematik, Astronomie, Teilchenphysik Potentiale geweckt werden, die das traditionelle humanistische Weltbild nicht nur verändern, sondern vielleicht sogar umstürzen können. Doch darauf kann er nur Hinweise geben. Physik ist nicht sein Metier, er ist nur aufmerksam genug, sie zur Kenntnis zu nehmen und sich dann doch wieder der Literatur zuzuwenden. Getreu seiner Voraussetzung, dass die altgriechische als Fundament europäischen Geistes angesehen werden muss, hat er ein ganzes Buch der griechischen Tragödie gewidmet, vor allem der, die er für die größte und folgenreichste hält, Sophokles „Antigone“.

Wir haben wirklich sehr wenig dem hinzugefügt, was uns Hellas an fruchtbaren Erscheinungen gegeben hat. Unsere Anstrengungen sind „herkulisch“, Unser Aufbegehren orientiert sich an Prometheus. Der Minotaurus bewohnt unsere Labyrinthe, und unsere Flieger stürzen vom Himmel wie Ikaros. Auch schon vor Joyce waren unsere Irrfahrten und Heimkehren odysseisch. Dem wütenden Schmerz einer Frau leiht noch immer Medeia die Stimme. Die Trojanerinnen sprechen unsere Klage über den Krieg aus. Drogenkultur und Blumenkinder wandten sich den Bakchen zu. Ödipus und Narziss werden herangezogen, um unsere Komplexe zu adeln, ja zu definieren. Spiegel blickt auf Spiegel, Echo ruft nach Echo – und auch dies sind Gleichnisse aus griechischen Mythen.

Erstaunlicher Schluss
Er untersucht, wie diese Mythen die europäische Philosophie, Hegel etwa und Kierkegaard und die Dichtung, etwa Goethe beeinflussten, wendet sich dann den Übersetzungen zu, wobei die „Antigonae“ Hölderlins besonders reflektiert wird, folgt allen Figuren der Tragödie: der Titelheldin, aber auch dem König Kreon, Antigones Schwester Ismene, Haimon, der Antigone heiraten sollte, den Brüdern Eteokles und Polineikes, die im Bruderkrieg gefallen waren, dem der begraben werden und dem, der den Raben zum Fraß dienen soll. Und kommt zu einem erstaunlichen Schluss:

Sophokles Dramen und die Poesie seines Denkens sind, soweit wir sie kennen, von einem Gefühl für die Brüchigkeit menschlicher Institutionen durchdrungen. Die Quellen der Bedrohung sind dreifach:
Die Animalität des Menschen, die kreativ-destruktiven Atavismen des organischen und des Tierreichs in seiner eigenen entwickelten Person drohen, das Gefüge menschlicher Existenz in archaische Einsamkeit und Ausgesetztheit zurückzustoßen. Am entgegengesetzten Ende des Gefahrenspektrums liegen die Heimsuchungen des Göttlichen. Die dritte Gefahrenquelle lässt sich am schwierigsten definieren. Sie liegt implizit in der Neigung des Menschen zum Handeln und in der Erkenntnis dass Vortrefflichkeit aus Handeln hervorgeht.

Steiner hat in einem weiteren Kapitel sich all den späteren Bearbeitungen des Antigone-Stoffs zugewandt, von den barocken bis zu den zeitgenössischen, etwa Brechts Fragment. Am Ende beharrt er auf solch ausführlicher Arbeit:

Es ist klar, dass die Welt der Textgelehrsamkeit, der Rezensionen und des philologischen Kommentars hauptsächlich für Spezialisten zugänglich ist. Aber sie ist eine Welt. Die Energien der geisteswissenschaftlichen Forschung sind streitbar und selbsterzeugend. Philologie und Textkritik sind ihrem innersten Wesen nach inflationär.

Inflationär in dem Sinn, dass sie immer neue Interpretationen fordern. „Nach Babel“ hat Steiner den umfangreichsten Band der Werkausgabe genannt: Babel, das war der Turm, den die Menschen, wie es die Genesis erzählt, bis in den Himmel bauen wollten und den Gott zerstörte, jene mit unendlich vielen Sprachen zurücklassend, ohne Verständigung untereinander.

Nach Babel“ postuliert die These, dass das Übersetzen formal ebenso wie praktisch Teil eines jeglichen Kommunikationsvorgangs ist, beim Senden und Empfangen jedweder Form von „Bedeutung“ sei es im umfassenderen semiotischen Sinn oder im engeren des sprachlichen Austauschs. Verstehen bedeutet dechiffrieren.

Durch das wundersame Vermögen der Grammatiken ist es möglich, den Tatsachen zu widersprechen und „Wenn“-Sätze sowie vor allem Formen des Futurums zu bilden, die die menschliche Spezies dazu befähigen, zu hoffen und weit über das Ende des Individuums hinauszureichen.

Übersetzung betrifft jede menschliche Verständigung
Übersetzen ist für Steiner ein Vorgang, der nicht bloß die Literatur betrifft, sondern jede menschliche Verständigung, von der Kindersprache, die für Erwachsene unverständlich bleibt der Sprache der Liebenden, die verbirgt, was andere nicht wissen sollen, den Wissenschaftssprachen, die Laien wie ein Kauderwelsch vorkommen. Oder, um nur ein Beispiel zu nennen aus den zahllosen, die er beschreibt:

Die Diktion der englischen Oberklasse mit ihren verschlissenen oder verschluckten Vokalen und anderen modischen Undeutlichkeiten ist sowohl ein gegenseitiger Erkennungscode als auch ein Instrument der ironischen Ausschließung. Diese Sprache kommuniziert gleichsam von oben herab. (…) Man spricht mit einem Untergeordneten besonders nachdrücklich und spielt mit dem ironische unterkühlten Sprechakt den eigenen Status aus, sobald ein Standesgenosse in Hörweite ist. Für die Unterschichten ist die Sprache nicht weniger Waffe und Rache.

Aber warum so viele Sprachen, warum ist bislang jeder Versuch, zu einer Universalsprache der Menschheit zu kommen – also Babel gleichsam rückgängig zu machen – gescheitert? Steiner fragt sich das selbst. Seine Antwort mag irritierend erscheinen, sie ist dennoch plausibel:

Die verschiedenen Sprachen sind, so glaube ich, verschiedene, in sich schöpferische Gegenvorschläge zu den Zwängen, unserer biologischen und ökologischen Verfasssung. Sie sind Instrumentarien für die Hortung und Weitergabe des Vermächtnisses an Erfahrung und imaginativer Gestaltung in einer gegegeben Gemeinschaft.Das Buch wendet sich an jeden, der weiß, dass Babel zugleich ein Desaster und – dies ist die Herkunft des Desasters – ein Sternenregen für die Menschheit war.

Bis alle Sterne verloschen, alle Kometen verglüht sind, bleibt die Notwendigkeit und die Kunst des Übersetzens, die diese ungeheure Quantität an privaten und öffentlichen Geheimnissen Anderen mitzuteilen vermag. Dahinter schimmert auch bei Steiner eine Art Utopie:

Wie sich einst schon im Sündenfall die Herabkunft des Erlösers angekündigt haben mag, so in der babylonischen Sprachverwirrung die dereinstige Heimkehr zur Einheit der Sprache im Pfingstwunder oder in Zukunft. So gesehen, ist Übersetzen ein teleologischer Imperativ, die unbeirrbare Suche nach Spalten, Ritzen und Schleusen, durch welche die geteilten Ströme und Bäche der Sprache sich in den verheißenden Rückweg zur alleinigen Meeresheimat erzwingen.

Bis dahin ist es noch weit und Steiner zeigt, natürlich am Beispiel der Literatur, wie Übersetzungen, das Leben leichter und – verständlicher machen. Nicht ohne die geborenen Vermittler – im dauernden Exil:

Bei diesem fruchtbaren Unternehmen spielen die Juden, ob sie sich nun offen zu ihrem Glauben bekannten oder konvertiert waren, eine Schlüsselrolle. Man darf sagen, dass die charakteristische, vielleicht sogar ausschlaggebende Beteiligung des jüdischen Bewusstseins und seiner polyglotten Neigungen an der Fortpflanzung und Verbreitung von Ideen in ganz Europa in den kurzen Intervallen religiöser Toleranz begonnen hat, die es in Toledo und Südfrankreich gab.

Steiner hat erschütterte, tiefsinnige Zweifel
Und dennoch: Steiner, der Jude, selbst ein Ahasver, der das Land Israel als die nach der Shoa so ostentative „Heimstatt“ der Juden anerkennt, hat am Ende Zweifel, erschütterte, tiefsinnige Zweifel. So wie er es in den „Errata“, die ja Irrtum meinen und Korrektur, traurig
als seine sehr persönliche – und oft missverstandene – Haltung beschreibt.

Juden bestehen darauf, gegen die Norm und Logik der Geschichte zu existieren, die, selbst wenn es keinen Völkermord gibt, in allmählicher Verschmelzung, Assimilation, Vermischung und der Auslöschung ursprünglicher Identität zu bestehen. Zu meinem Bedauern kann ich mich nicht als Partner eines Vertrags mit Abraham sehen. (…) Nichtsdestoweniger überzeugt mich das Rätsel, die Singularität des Überlebens der Juden nach der Shoa von einem Ziel. (…) Genau dies ist der Punkt, an dem ich stocke. Es wäre irgendwie skandalös (ein Wort das eine theologische Herkunft hat) wenn Jahrtausende der Offenbarung des Rufs zum Leiden, wenn die Agonie von Abraham und Isaak, vom Berg Morija bis nach Auschwitz als letzte Konsequenz die Errichtung eines bis an die Zähne bewaffneten Nationalstaats hätten, eines Landes für die Börse und die Mafiosi, wie es alle anderen Länder sind. „Normalität“ wäre für die Juden nur eine andere Art des Verschwindens. Das Rätsel, vielleicht die Verrücktheit des Überlebens muss eine größere Berufung haben. Eine die untrennbar mit dem Exil verbunden ist.

Das Exil ist sein Schicksal, dass er angenommen hat. Er fängt den „Sternenregen“ – das Desaster auf, unermüdlich, unbeirrbar, in der Hoffnung auf den geduldigen Leser.

 

George Steiner: Werke I-V, Suhrkamp Verlag, 1650 Seiten, 75 Euro.

Errata. Bilanz eines Lebens, dtv, 222 Seiten, 11 Euro.
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