Italo Svevo by Astrid Nettling

„Das Leben ist originell“

Italo Svevo – Ansichten aus der Feder eines Untauglichen

Von Astrid Nettling

Als Unternehmersohn arbeitete er zunächst in einer Bank, ehe er sich erfolglos an Theaterstücken versuchte und das Schreiben schon aufgeben wollte. Die Rede ist von Italo Svevo, der mit seinem dritten Roman „Zenos Gewissen“ hernach zu einem der bedeutendsten italienischen Autoren des 20. Jahrhunderts avancieren sollte. Vor 150 Jahren wurde Svevo in Triest geboren.

Astrid Nettling erinnert in ihrem Essay „Das Leben ist originell – Ansichten aus der Feder eines Untauglichen“ an den lange Zeit verkannten Schriftsteller. Nettling ist freie Hörfunkjournalistin und Lehrbeauftragte für Philosophie. 2004 erschien von ihr im Herder-Verlag das Buch „Kleine philosophische Lebenskunst“.

„Das Leben ist originell“
Italo Svevo – Ansichten aus der Feder eines Untauglichen

Von Astrid Nettling

„Mit seinen fünfunddreißig Jahren fand Emilio Brentani in seiner Seele das ungestillte Verlangen nach Vergnügen und Liebe und auch schon die Bitterkeit, sie nicht genossen zu haben. Als unbedeutender Beamter einer Versicherungsgesellschaft verdiente er gerade so viel, wie die kleine Familie benötigte. Die zweite Beschäftigung galt der Literatur. Vor vielen Jahren hatte er einen Roman veröffentlicht, der längst im Lager des Buchhändlers vergilbt war. Da er sich der Nichtigkeit seines Werkes vollkommen bewusst war, rühmte er sich der Vergangenheit nicht, glaubte jedoch, sowohl im Leben wie in der Kunst, immer noch in der Vorbereitungsphase zu sein; als ob die Zeit der schönsten Lebenskräfte für ihn nicht schon vorüber wäre.“

Mit seinen 37 Jahren ist Italo Svevo nahezu im selben Alter wie sein Protagonist Emilio, als er „Senilità“ veröffentlicht. Es ist sein zweiter Roman nach „Una vita“, der sechs Jahre zuvor erschienen und gleichfalls ungelesen im Lager des Buchhändlers vergilbt war. Auch „Senilità“ wird dasselbe Schicksal ereilen. Trotz der Bedenken seines Verlegers hatte Svevo auf den eigenwilligen Titel bestanden. „Senilità“ – es bezeichnet die Grundbefindlichkeit seines längst noch nicht alten Helden, der, anstatt den vitalen Ansprüchen des Lebens gerecht zu werden, dem Leben bereits wie ein Greis mit daseinsmüder Distanz und matter Teilnahmslosigkeit begegnet. Auch die Hauptfigur seines Romanerstlings, den jungen Bankangestellten Alfonso, hatte Svevo mit einem ähnlichen Naturell versehen.

„Er war unfähig zum Leben. Irgend etwas, das er immer wieder und vergeblich zu verstehen versucht hatte, machte es ihm unerträglich.“

„Un inetto – Ein Untauglicher“ sollte der Roman ursprünglich heißen, doch sein Verleger hatte sich geweigert, ein Werk mit einem derartigen Titel zu veröffentlichen.

Kurz vor der Jahrhundertwende entstanden – 1892 kam „Una vita“ heraus, 1898 „Senilità“ -, war die Zeit noch nicht reif für all die „inetti“, wie sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts die literarische Bühne bevölkern werden. Für all die „Untauglichen“ aus der Feder eines Robert Musil, Franz Kafka, Hermann Broch, Fernando Pessoa, denen das „Handwerk des Lebens“ nicht mehr recht von der Hand gehen will und die sich unfähig fühlen für ein Leben, das die meisten mit jener fraglosen Selbstverständlichkeit zu führen wissen, die sie mit sich und der Welt mehr oder weniger im Einklang durch das Dasein trägt. Ebenso war die Zeit noch nicht reif für den Schriftsteller Italo Svevo, der 1861 in Triest als Ettore Schmitz geboren seit seinem neunzehnten Lebensjahr seine Existenz als Handelskorrespondent für Deutsch und Französisch in der dortigen Filiale der Wiener Unionbank zu bestreiten hatte.

„Müdigkeit? Es war eher Ekel. Von Tag zu Tag wurde seine Arbeit immer mehr, aber an ihrer Beschaffenheit änderte sich wenig oder nichts. Gegen Abend hielt die Schreibhand, der einzige Körperteil, der wirklich müde war, inne, die Aufmerksamkeit schweifte ab, und manchmal musste er vor lauter Ekel die Feder hinwerfen und mit der Arbeit aufhören. Es war nicht der gute Wille, an dem es ihm mangelte, es war das Vermögen; der Defekt war bei ihm organischer Natur“,

grübelt sein Protagonist Alfonso während langer Stunden in der Bank über sich und seine Lebensuntauglichkeit nach, die seine Hand so müde und ihm die Schreibarbeit am Tage so verhasst macht, wie sie ihn des Nachts erneut zur Feder greifen lässt, um sich voll Ehrgeiz an einer philosophischen Abhandlung zu versuchen, die ihm Aufschluss über das Leben verschaffen soll. Als ob eine kleine Feder aus Stahl das lebendige Gefieder ersetzen könnte, das man zum Fliegen braucht, und eine lediglich zum Schreiben gekrümmte Hand tauglich wäre für den packenden Zugriff auf das Leben.

Während einer Bootsfahrt draußen auf dem Meer hatte Alfonso eines Tages fasziniert die Möwen mit ihren weit ausgespannten Flügeln beobachtet, wie sie im ruhigen und gleichmäßigen Flug dahingleiten und sich mit jähem Fall sicher auf ihre Beute stürzen. Angetrieben von nichts als dem Willen zum Leben, jener ewig treibenden, grund- und ziellosen Macht, die nicht „weiß, sondern bloß will, eben weil sie Wille ist und nichts Andres“, so hatte es Arthur Schopenhauer formuliert, der große Metaphysiker des Willens und Lieblingsphilosoph Alfonsos wie auch der des Handelskorrespondenten Ettore Schmitz. Und dieser Wille zum Leben schafft sich seine willenbewegten Kreaturen – beispielsweise jene Möwen. Doch „wer nicht von Geburt an die erforderlichen Flügel hat, dem werden sie nie mehr wachsen“, geht Alfonso bei ihrem Anblick schlagartig auf, und „wer nicht von Natur aus versteht, rechtzeitig auf die Beute niederzustoßen, der wird es nie mehr erlernen“.

Genauso wenig wie er das „Handwerk des Lebens“ noch erlernen wird und ihm solche Tauglichkeiten zuwachsen, die ihn – wie die Möwenflügel mit selbstverständlicher Sicherheit durch die Luft – durch das Leben tragen. Aber was wäre überhaupt beim Menschen der dafür geeignete Körperteil? Verbringt er nicht Stunden am Studiertisch, um ein im Grunde „unnützes Organ zu nähren“, mit dessen Hilfe er lediglich impotente Leistungen zustande bringt, die dem Leben bloß kraftlos hinterherzustolpern vermögen?

Unüberhörbar hat die Stunde der Lebensphilosophien geschlagen mit Arthur Schopenhauers „Welt als Wille und Vorstellung“ als deren Bahnbrecher. Auch Friedrich Nietzsche wird vom Willen zum Leben als dem Prinzip allen Lebens sprechen, sein „Zarathustra“ vom „Leib“ als der „großen Vernunft“, der sich die „kleine Vernunft, die der Mensch Geist nennt“, als ein bloßes Spielzeug mit zweifelhaftem Nutzen für das Leben schafft. Henri Bergsons „élan vital“ und seine Philosophie des Lebendigen kündigen sich ebenso an. Die Stunde der Lebensphilosophien war also auch in Triest, dieser geschäftigen Hafen- und Handelsstadt am Rande der damaligen k.u.k.-Donaumonarchie angebrochen, genauer für jene Naturen, die es nicht lassen können, mit der Feder in der Hand ihr „unnützes Organ zu nähren“, um über ihre vielfach gebrochene Grundbefindlichkeit dem Leben gegenüber nachzusinnen. Wie Alfonso pflegt auch Ettore Schmitz nach getaner Arbeit die städtische Bibliothek aufzusuchen, um sich während einiger Stunden literarischen und philosophischen Studien hinzugeben und des Nachts dem Schreiben. In seinem Tagebuch notiert er:

„Kurzum, außerhalb der Feder gibt es kein Heil.“

Mit dem Erscheinen von „Una vita“ hatte sich Ettore Schmitz das Pseudonym Italo Svevo zugelegt, der „italienische Schwabe“, in Erinnerung an seine im schwäbischen Segnitz verbrachte Schulzeit, wo er die Literatur, vor allem die deutschen Klassiker und Shakespeare für sich entdeckt hatte. Doch sechs Jahre nach seinem erfolglosen Romandebüt und kurz nach der Veröffentlichung von „Senilità“ fasst Svevo den Entschluss, endgültig damit aufzuhören. Mit dem Schreiben, mit der Literatur – denn „das Schweigen“, so resümiert er, „mit dem man sein Werk aufgenommen hatte, war zu beredt gewesen, nun hatte er sich dem Ernst des Lebens zu stellen“, das heißt seiner bürgerlichen Existenz: dem Beruf, Ehestand und Familienleben. Schließlich war der Handelskorrespondent seit drei Jahren verheiratet und seit zwei Jahren Vater einer Tochter. Lediglich ein Tagebuch will er sich und seiner Feder weiterhin gestatten.

„Ich habe nun endgültig diese lächerliche und schädliche Sache, die sich Literatur nennt, aus meinem Leben ausgemerzt. Meine Angewohnheit – und die aller Unfähigen -, nur mit der Feder in der Hand denken zu können (als wäre der Gedanke nicht nützlicher und notwendiger im Augenblick der Tat), zwingt mich zu diesem Opfer. Nun wird mir also noch einmal die Feder, dieses grobe und unbeholfene Instrument, dazu verhelfen, auf den komplexen Grund meines Lebens zu gelangen. Dann werde ich sie für immer wegwerfen und mich daran gewöhnen zu lernen, direkt aus der Perspektive der Tat zu denken: im Laufen, vor einem Feind flüchtend oder ihn verfolgend, die Faust zum Schlagen oder zur Abwehr erhoben.“

Als er dies niederschreibt, ist Ettore Schmitz 42 Jahre alt. Vor Kurzem hatte er die Wiener Unionbank verlassen und war in das erfolgreiche Unternehmen seiner Schwiegereltern eingestiegen – in die Firma Veneziani, die nach einem von der Familie streng gehüteten Geheimrezept einen speziellen Unterwasserlack herstellte, der die Schiffsrümpfe von störendem, vor allem geschwindigkeitshemmendem Algen- und Muschelbelag frei hielt. Das Firmenemblem zeigt einen Ozeandampfer mit einem riesigen, weit ausgespannten Flügelpaar. Wenn auch dem Schriftsteller Italo Svevo keine Flügel wachsen wollen, dem Unternehmer Ettore Schmitz – dies sollte er nun erfahren – kann es durchaus gelingen.

Die nächsten zwanzig Jahre lernt er, sich in der betriebsamen Luft expandierenden Unternehmertums erfolgreich zu bewegen: betreut die Zweigniederlassung auf der Insel Murano, gründet 1903 eine Niederlassung in England, im Londoner Vorort Charlton, wo er jährlich einige Monate verbringen wird. „Vor dem Schriftsteller gewann der Industrielle immer mehr die Oberhand“, heißt es in den Lebenserinnerungen seiner Frau Livia Veneziani Svevo. In seinem „Autobiographischen Profil“ schreibt er:

„Alles in allem war sein Leben schließlich nicht so unglücklich, wie er befürchtet hatte. Er war stets der Ansicht, dass auch dem, der die Begabung hat, Romane zu verfassen, ein lebenswertes Leben zusteht. Und wenn man, um das zu erreichen, auf die Tätigkeit verzichten musste, zu der man geboren war, musste man sich damit abfinden.“

Selbstverständlich kann er sich nicht damit abfinden – „Schreiben muss ich, veröffentlichen ist nicht nötig“, aber schreiben mit seiner akkuraten Angestelltenhandschrift auf die Rückseite von Briefumschlägen, Rundschreiben, auf Zettel egal welcher Art. Zwar ist Svevo bereit, dem Leben, das heißt der Daseinsform bürgerlicher Existenz, den Tribut zu zahlen, den diese verlangt, aber zugleich weiß er, dass damit die Rechnung nicht aufgehen kann, dass das Leben dem Menschen noch etwas anderes zu bedeuten hat.

Immer noch ist es also die Feder, jenes „grobe und unbeholfene Instrument“, wonach er greift. Sei’s drum – das Lebewesen „Mensch“ ist nun einmal nicht mit einem Flügelpaar ausgestattet. Und lauten nicht zwei wunderbare Zeilen des Dichters Friedrich Rückert, die Sigmund Freud am Schluss seiner Schrift „Jenseits des Lustprinzips“ zitiert:

„Was man nicht erfliegen kann, muss man erhinken. Die Schrift sagt, es ist keine Schande zu hinken.“

Denn dem Leben hat man auf menschengemäße Weise zu begegnen. Es weder artfremd erfliegen, noch es wie eine Beute ergreifen wollen, sondern im tagtäglichen Durchgang durch es erkunden – am besten ein wenig hinkend, oder anders gesagt, in einer retardierten Gangart, die das Nachdenken erlaubt.

Bereits Augustinus hatte in Bezug auf die Zeit formuliert:

„Wenn niemand mich danach fragt, weiß ich’s, will ich’s aber einem Fragenden erklären, weiß ich’s nicht“,

Für das Leben aber gilt dasselbe. Denn was ist das Leben anderes als Zeit? Was anderes als diese unaufhaltsame Bewegung, in die alles Lebendige einbezogen ist? Pflanze, Tier und Mensch. Doch nur der Mensch ist das Lebewesen, dem es zuteilwurde, regelmäßig ins Stocken zu geraten, sobald er anfängt, über das nachzudenken, was er immer schon betreibt – das Leben. Warum sich also nicht gleich das Hinken zu eigen machen? So wie Zeno Cosini, der liebenswerteste aller „inetti“ und die Hauptfigur von „La coscienza di Zeno“, seinem dritten Roman, der dem Schriftsteller Italo Svevo schließlich den lang ersehnten Erfolg bescheren wird und der langsam in dem Unternehmer Ettore Schmitz zu reifen beginnt.

„Tullio hatte wieder angefangen, von seiner Krankheit zu erzählen. Er hatte die Anatomie des Beins und des Fußes studiert. Lachend erzählte er mir, dass man beim schnellen Gehen für einen Schritt nicht mehr als eine halbe Sekunde benötige, und dass sich in dieser halben Sekunde nicht weniger als vierundfünfzig Muskeln in Bewegung setzen würden. Ich staunte, und sofort lief ich in Gedanken zu meinen Beinen, um dort nach diesem ungeheuerlichen Apparat zu suchen, der, sowie ich meine Aufmerksamkeit darauf richtete, aus seinem geregelten Gang geriet. – Ich verließ das Café hinkend. Noch heute geniert es die vierundfünfzig Bewegungsabläufe, wenn mir wer beim Gehen zuschaut, und ich bin drauf und dran hinzufallen.“

„Vom Atem spricht man erst, wenn er beschwerlich wird“, schreibt Svevo an anderer Stelle, und vom Gehen spricht erst ein durch das Leben Hinkender. Für den Schriftsteller wie für seinen hypochondrischen Helden Zeno ohnehin die angemessene Fortbewegungsweise des Menschen. Schließlich weist das menschliche Leben in seinem Verlauf eine mitnichten geradlinige Schrittfolge auf, sondern lässt eine eher unsicher schwankende Gangart erkennen. Bereits eine der frühesten Fragen nach dem Sein des Menschen hatte ihn durch seinen Gang zu bestimmen gesucht.

„Ein Zweifüßiges gibt es auf Erden und ein Vierfüßiges mit dem gleichen Wort gerufen, und auch dreifüßig“, lautet das berühmte Rätsel der mythischen Sphinx. Ödipus erkannte darin den Menschen, der zwischen Kindheit und Alter dann zu seinem Normalgang findet, wenn er zweifüßigen Schritts einhergeht. Die Antwort des Ödipus stürzte das geflügelte Wesen in den Abgrund. Zurück blieb der Mensch, zweifüßig, flügellos – und hinkend, bedeutet doch der Name „Ödipus“ einem körperlichen Defekt des mythischen Helden zufolge „Schwellfuß“. Für Zeno Cosini eine Geburtskrankheit des Menschen überhaupt, ein Grunddefekt, von dem das menschliche Leben nicht kuriert werden kann. Denn unser Leben, so Zeno,

„verträgt keine Kuren. Jede Bemühung, uns zu heilen, ist vergeblich. Die Gesundheit kennen allein die Tiere, die nur einem Fortschritt huldigen: dem des Organismus.“

In Svevos drittem Roman ist es sein gleichfalls schon in die Jahre gekommener Protagonist, der mit darwinscher Gedankenfärbung über die conditio alles Lebendigen räsoniert. Über das vom Willen zum Leben getriebene Leben, über den dumpfen Lebensdrang, der unablässig neue Lebensformen schafft mit dem einzigen Ziel, sie tauglich zu machen für das Leben, das heißt gesund für den rastlosen Kampf um das Dasein, bei dem nur die Tüchtigen überleben. Die Antwort Zenos darauf ist sein Wille zur Krankheit – sein ebenso hypochondrischer wie neurotischer Widerstand dagegen, gesund zu werden.

„Krankheit ist eine Überzeugung, und ich bin mit dieser Überzeugung auf die Welt gekommen.“

Verschafft ihm doch die Krankheit jene retardierende, zeitgewährende Bewegungsweise, die dem blind vorwärtstreibenden Lebenswillen die Spitze bricht. Wie sein Hinken oder seine berühmte „letzte Zigarette“, deren beharrlich hinausgeschobenes Datum die Seiten seiner Kalender, Tage- und Notizbücher füllt.

„Mit großartiger Gebärde sagt man: ‚Nie mehr wieder!‘ Aber was wird aus der Gebärde, wenn man das Versprechen hält? Die Gebärde kann man nur dann ausführen, wenn der Vorsatz immer wieder erneuert werden muss.“

Zeit und damit auch Leben lassen sich gewinnen, wenn man durch Wiederholen Schleifen in die vergehende Zeit schlägt – so wie beim Rauchen die Ringe, die man einen nach dem anderen in die Luft bläst. Denn erst dann, sinniert Zeno weiter, ist die Zeit „nicht dieses unvorstellbare Etwas, das nie stehenbleibt.“ Im Gegenteil:

„Bei mir, bei mir allein kommt sie sogar zurück.“

Glücklicher Zeno. Sein Namensvetter, der Vorsokratiker Zenon von Elea, brachte die Zeit am Beispiel des fliegenden Pfeils lediglich zum Stehen. Zeno Cosini vollbringt sogar das Kunststück, die Bahn seiner Bewegung zurückzuwenden. Wiederholen, Umkehren, Verzögern und Hinausschieben – derart nehmen sich die retardierenden Eingriffe aus, die dem zieltriebigen Fortgang des Lebens jene Art von Hindernissen in den Weg stellen, die zu errichten all die Lebensuntauglichen wahre Meister sind. Die Helden Musils, Kafkas, Brochs, Pessoas und Svevos – die zum tatkräftigen Leben ewig Unentschlossenen und Zaudernden, lebensfremdelnd und voll „Unbehagen in der Kultur“, allesamt ein bisschen neurotisch und hinkend, die sich dem „Zauderrhythmus im Leben“, so nennt es Sigmund Freud, verschrieben haben, bei dem es, anstatt immer weiter vorzupreschen, „an einer gewissen Stelle des Weges zurückschnellt, um ihn von einem bestimmten Punkt an nochmals zu machen und so die Dauer des Weges zu verlängern.“

Eine Gangart, in der nicht nur Zeno Cosini, sondern gleichermaßen sein Schöpfer Italo Svevo erprobt war. Einem Kettenraucher wie diesem strukturiert die „letzte Zigarette“ ebenso sein Leben wie der ständig aufgeschobene Vorsatz, die Schreibfeder endgültig aus seinem Leben zu verbannen. Wie Zeno liebt Svevo seine „Krankheit“, die er sich, wie er schreibt, „mit einem großen Aufwand an Selbstverteidigung bewahrte“. Obwohl seit zwanzig Jahren ein tauglicher Geschäftsmann bleibt er wie alle Untauglichen bei seinem retardierten Gang und seiner Angewohnheit, nur „mit der Feder in der Hand denken zu können“.

Doch erst jetzt im Alter wird ihm klar, dass die bloß zum Schreiben gekrümmte Hand kein Defizit bedeuten muss, sondern ihm etwas zu geben vermag, was der tatkräftig zupackenden Hand nicht gelingen kann. Denn nur wenn man den Griff auf das Leben lockert, lassen sich im gelassenen Nachsinnen und Nachspüren die Schrittfolgen des Lebens entziffern, und in den Schleifen, die man in die Zeit schlägt, lässt sich wiederholen und damit wieder holen, was im Normalfall eher unbedacht durchlaufen und gedankenlos vollzogen wird – das Leben.

„Wenn ich darüber lese, erscheint es mir bedeutender als mein Leben selbst, das mir lang und leer vorkommt. Das Leben wird verwässert durch allzu viele Dinge, die in seiner Beschreibung nicht erwähnt werden. Man spricht darin vom Atem erst, wenn er beschwerlich wird, und auch von Ferien, Schlaf und Essen nicht eher, als einem diese Dinge aus irgendeiner tragischen Ursache abgehen. In Wirklichkeit dagegen kehren sie, zusammen mit vielen anderen solchen Betätigungen, immer wieder und füllen gebieterisch einen großen Teil unseres Tages. Schon aus diesem Grund wirkt die Beschreibung eines Lebens, von dem ein großer Teil ausgespart wird, soviel lebendiger als das Leben selbst.“

In einem kurzen Prosastück schildert sein Protagonist Zeno, wie er eines Tages in Begleitung seiner Gattin Augusta mit seinem Automobil vor einem Verkehrspolizisten anhalten muss. Ein junges Mädchen, ganz in Weiß und leuchtendes Grün gekleidet, schlängelt sich durch die wartenden Autos nah an seinem Wagenfenster vorbei. Verzaubert von ihrem frühlingshaften Anblick vermeint Zeno mit einem Mal, sie zu kennen, und grüßt sie aus dem Wagenfenster heraus.

„Augusta hatte sofort das Lorgnon an die Augen geführt. ‚Wer ist dieses junge Mädchen?‘ Den Namen wusste ich nicht mehr. Ich heftete die Augen fest auf die Vergangenheit und durcheilte die Jahre, eins ums andere, weit, weit zurück. Da entdeckte ich das Mädchen an der Seite eines Freundes meines Vaters. ‚Die Tochter des alten Dondi‘, murmelte ich. Ich sah eine kleine Villa in einem kleinen grünen Garten, und dabei fielen mir die Worte ein, mit denen dieses junge Mädchen die ganze Gesellschaft zum Lachen gebracht hatte: ‚Warum fällt nie eine Katze allein vom Dach, warum fallen immer gleich zwei?‘ Auch ich war damals so naiv gewesen, dass ich mit allen anderen mitlachte, anstatt sie, schön und begehrenswert, wie sie war, in die Arme zu nehmen. – Augusta machte diesem verworrenen Traum ein Ende, indem sie hell auflachte: ‚Die Tochter des alten Dondi ist heute so alt wie du! Ha, ha, ha! Hätte sie hier gestanden, sie wäre wohl hinkend und humpelnd unter unsere Räder geraten.'“

Wie schlecht sind wir Menschen doch gerüstet, dem Leben auf Augenhöhe zu begegnen und im richtigen Augenblick „da“ zu sein. Immer schon woanders, sind wir – den Blick nach vorn gerichtet – statt dessen pausenlos damit beschäftigt, das Geschäft unseres Lebens weiter und weiter voranzutreiben. Aber vielleicht macht dies die eigentliche Untauglichkeit des Menschen aus, das, was sich uns gibt, niemals wirklich aufnahmebereiten Sinnes wahrnehmen und gleichsam mit geöffneter Hand empfangen zu können, sondern nur über Umwege und erst im Nachhinein uns aufgehen will, was es gewesen war.

„Das Fräulein Dondi war mir niemals so nahe wie an diesem Tag. Früher, in jenem kleinen Garten, hatte ich sie kaum gesehen und war an ihr vorbeigegangen, ohne ihre Anmut und Unschuld wahrzunehmen. Und nun, da ich sie wiedergefunden habe und man uns beisammen sieht, fangen die Leute an zu lachen.“

Kein glückliches Wiederfinden der verlorenen Zeit wie bei Marcel Proust bleibt es bei Svevo eine eher lächerliche bis peinliche, jedenfalls hoffnungslos unzeitige Trouvaille, die uns Menschen stets zu spät zufällt. Sigmund Freud hat von den drei großen narzisstischen Kränkungen gesprochen, die der Mensch im Laufe seiner Kulturgeschichte hinnehmen musste. Die erste „kosmologische“ Kränkung erfolgte durch Kopernikus und seine Entdeckung, dass der Mensch und dessen Wohnsitz, die Erde, mitnichten den Mittelpunkt des Weltalls bildet. Die zweite „biologische“ Kränkung war der Erkenntnis Darwins geschuldet, dass der Mensch keineswegs die Krone der Schöpfung darstellt, sondern als ein hoch entwickeltes Säugetier selbst aus der Reihe der Tiere hervorgegangen ist. Die dritte „psychologische“ Kränkung bewirkte die Einsicht Freuds, dass der Mensch mit seinem Ich nicht einmal Herr im eigenen Hause ist. Schon Friedrich Nietzsche hatte konstatiert:

„Seit Kopernikus rollt der Mensch vom Zentrum ins x.“

Svevo – der Leser Schopenhauers, Nietzsches und Darwins, aber ebenso ein früher und intensiver Freud-Leser, wenn auch kein Anhänger seiner Psychoanalyse – ist dieser conditio moderna des Menschen auf seine Art und Weise nachgegangen. Namentlich mit seinem Helden Zeno, dessen autobiografische Aufzeichnungen peinlichst genau nachzeichnen – dies macht „La coscienza di Zeno“ aus, seine nichts beschönigende Gewissenhaftigkeit -, wie wenig sein Bewusstsein, „la coscienza di Zeno“, tatsächlich Herr im eigenen Hause ist. Mitnichten der Gebieter seiner erklärten Absichten und Pläne, stets im Unklaren über die wahre Beschaffenheit seiner Wünsche und Vorlieben, angetrieben von Beweggründen, die er selber nicht kennt, wird er vom Leben eher vorgeführt, als dass er mit seinem Ich für dessen Verlauf geradestehen könnte.

Man hat ihn nicht zufällig mit Chaplin verglichen, und wie Chaplin bringt er uns zum Lachen. Aber so wie sich dieser auf schwankendem Boden mithilfe seines Stöckchens ein zumindest prekäres Gleichgewicht zu bewahren weiß, findet Zeno Halt an seiner dauerhaft „letzten Zigarette“, an seinen Ticks und Hypochondrien, die ihm immerhin ein räsonierendes Innehalten erlauben bei seinem Gang durch ein Leben, das wir Menschen weniger selbstbewusst durchschreiten, als dass wir es – uns ewig selber fremd – durchstolpern. Ein für den Menschen jedenfalls schwergängiges Element, das, wie Zeno schließlich feststellt, „weder hässlich noch schön“ ist – als „jenseits von gut und böse“ würde Friedrich Nietzsche es charakterisieren -, sondern das, so Zeno weiter, „originell“ ist.

„Je mehr ich darüber nachdachte, desto origineller fand ich das Leben. Und man brauchte auch gar nicht von außen zu kommen, um zu sehen, auf wie absonderliche Weise es zusammengesetzt war. Man brauchte nur an all das zu denken, was wir Menschen uns vom Leben erwarten, damit es einem völlig fremd erscheint und man zu dem Schluss gelangt, dass der Mensch vielleicht irrtümlich da hineingeraten war und gar nicht da hineingehört.“

Sprecherin:
Im Frühjahr 1919 hatte Svevo mit der Niederschrift von „La coscienza di Zeno“ begonnen, im Mai 1923 erscheint der Roman in einem kleinen Verlag in Bologna. Wieder auf Kosten des Autors wie schon die Romane davor, und wieder stößt sein Werk auf Unverständnis und Schweigen. Trotz seiner langen Erfahrung schmerzt ihn der abermalige Misserfolg zutiefst. „Er war zweiundsechzig Jahre alt und stellte fest, dass die Literatur, ohnehin stets schädlich, in diesem Alter geradezu gefährlich war“. Zumindest ist er alt genug, diesmal nicht zu resignieren. Er schickt den Roman nach Paris zu James Joyce, mit dem er seit dessen Turiner Zeit befreundet ist.

„Warum regen Sie sich auf, Sie müssen wissen, dass das bei weitem Ihr bestes Buch ist“,

lautet die prompte Antwort zusammen mit der Empfehlung, einige Exemplare an französische Literaturkritiker zu schicken. Einer von ihnen, Valéry Larbaud, zeigt sich sofort begeistert. Damit ist der Anfang gemacht, und es sollte sich – so Svevo – an ihm „das Wunder des Lazarus wiederholen“ und der Schriftsteller Italo Svevo im Alter von 65 Jahren zum Leben erweckt werden. Doch nur zwei Jahre sind ihm vergönnt, seine späte Auferstehung zu genießen. Im September 1928 kommt auf regennasser Fahrbahn sein vom Chauffeur gelenktes Auto von der Straße ab und prallt gegen einen Baum. Svevo bricht sich den linken Oberschenkel und erleidet einen schweren Schock. Zwei Tage später, am 13. September, stirbt er an Herzversagen. In der Tat:

„Das Leben ist weder häßlich noch schön, es ist originell.“

In einer der letzten Notizen aus der Feder Svevos stellt sich der greise Zeno vor, dass ihm um Mitternacht Mephistopheles, der ewig Hinkende, erscheint, um ihm den alten Teufelspakt anzubieten – das Nocheinmal. Doch Zeno besitzt weder faustisches Naturell, noch ist er ein Anhänger von Nietzsches „Zarathustra“ und seiner Lehre von der „ewigen Wiederkunft des Gleichen“, sondern ist sich gewiss, dass er dieses wahrhaft teuflische Ansinnen ohne zu zögern von sich weisen würde.

„Ich würde nicht annehmen. Ich würde entrüstet ablehnen. Das schwöre ich. Ein Glück, dass sich Mephistopheles meinetwegen nicht bemühen wird. Käme er doch, so würde ich ihm sagen: Sag du mir, der du alles weißt, was ich erbitten soll. Und ich überließe ihm meine Seele nur, wenn er mir etwas ganz Neues anböte, denn es gibt keinen Tag in meinem Leben, den ich wiederholen wollte, nun, da ich weiß, wie er geendet hat. Mephistopheles wird nicht kommen. Ich sehe ihn in seiner Hölle sitzen und sich verlegen den Bart kratzen. – Immerhin verdanke ich diesen Notizen den Trost, dass ich in dem Augenblick, da ich mich zu Bett begebe, lachen muss. Und Augusta wird, nur halb aufgewacht, murmeln: ‚Du, du lachst immer, auch noch um diese Zeit. Du Glücklicher.'“

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