ZITATOR 1: “[… W]as mich quält ist die Frage: Wozu könnte ich taugen[?] [K]önnte ich nicht auf irgendeine Art dienen und nützlich sein […]? Siehst Du, das quält mich dauernd, und dann fühlt man sich als Gefangener der Geldnot, von dieser oder jener Arbeit ausgeschlossen […]. Das macht einen schwermütig, man fühlt eine Leere da, wo Freundschaften […] sein könnten; man spürt, wie die schreckliche Mutlosigkeit sogar die moralische Energie auffrißt, das Verhängnis scheint jede liebevolle Regung verhindern zu können, und eine Flut des Ekels steigt in einem hoch. Und dann sagt man: >Wie lange noch, mein Gott!< […]“
SPRECHER: In einem jener Hochglanzmagazine, die ihre Themen auf das neoliberale Denken focusieren und es nach Kräften befördern, war vor einigen Jahren zu lesen, daß dem Kunstmarkt im Fin de siècle des 20. Jahrhunderts kein Talent mehr entgeht. Den Spekulanten, die nicht nur in Aktien, Investmentfonds und Immobilien investieren, sondern auch durch den Kauf von Kunstwerken ihr Kapital gewinnbringend anlegen möchten, diesen Spekulanten stehen Galerien und Art-Consulting-Firmen zur Seite, die ihrerseits die Augen offenhalten. Ihr Ziel ist es, dem Geldanleger momentan im Preis noch äußerst günstige Kunstwerke zu vermitteln, in der Hoffnung, daß der Marktwert dieser Werke in wenigen Jahren oder zumindest in einigen Jahrzehnten astronomisch ansteigen wird. Hoffnung ist jedoch nicht ganz das richtige Wort: Denn wer das >Goldene Kalb< oder den >Almighty Dollar< zum Mittelpunkt seines Lebens macht, der möchte Gewißheit haben; die Rendite-Chance muß schon einen hohen Wahrscheinlichkeitswert aufweisen. Soll ihr Geschäft florieren, müssen die Einkaufsberater Sicherheit ausstrahlen: Sie müssen in der Tat sehr gut informiert sein, müssen auf internationalen Kunstausstellungen wie der Biennale in Venedig oder der >documenta< in Kassel zu Hause sein. Sie wissen, wer gerade welchen Kunstpreis erhalten hat, wen die maßgeblichen Kuratoren besonders hoch einschätzen, welcher Künstler soeben verstorben und deshalb den Museen und Kunstmagazinen jetzt vielleicht eine Retrospektive wert ist. Zur Not wird auch schon einmal nachgeholfen: Der Galerist lanciert, wenn er finanzstark ist, mit einer großzügigen Spende seine Schützlinge auf den prestigeträchtigsten Austellungen. Diese Investition lohnt sich allemal, läßt eine Beteiligung zum Beispiel auf der >documenta< den Marktwert eines Künstlers doch in die Höhe schnellen.
Denn der Erwerb von Werken eines Nachwuchskünstler, der weder ein Schmidt-Rotluff-Stipendium noch einen Turner-Preis aufzuweisen hat, eine solche Investition ist den Anlegern zu riskant: Man müßte wie in der Lotterie viele Lose, also zu breit gestreut, kaufen, um mit Sicherheit einen Treffer zu landen. Deshalb orientiert man sich lieber an einer Art Pre-Selection der sogenannten Trendsetter.
Wie hatte sich Vincent van Gogh bezeichnet? – “als Gefangener der Geldnot”!
Ist man sich heute tatsächlich sicher, aus der Vergangenheit, aus der Historie skandalöser Fehleinschätzungen gelernt zu haben? Das Paradigma solcher Fehleinschätzung schlechthin stellt ja die Lebensgeschichte Vincent van Goghs dar, der selbst – von seiner Umwelt mißachtet – nur wenige Bilder verkaufte, und die auch noch zu einem sehr geringen Preis. Aber je mehr man heute als Kurator oder Kunstverkäufer gezwungen ist, mit der Überzeugung aufzutreten, daß einem kein wirkliches Talent mehr entgeht, um so mehr unterliegt man der Selbstüberschätzung: Je gewisser man sich ist, keinen Künstler mehr zu übersehen, desto verblendeter wird die Ausgrenzung. Wen man übersieht, der hat dann eben kein Talent.
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