Goethe, Proust und die (Weißdorn)-Hecke

Marcel Prousts Weißdorn

>>Aber wie lange ich auch vor den Weißdornbüschen verharrte und ihren unsichtbaren und in der Luft stehenden Geruch einatmete, mit meinen Gedanken zu fassen versuchte, die nichts mit ihm anzufangen wußten, ihn verlor, wiederfand oder in den Rhythmus einfiel, der seine Blütenblätter hier und da mit juegndlicher Beschwingtheit und in unerwarteten, bestimmten musikalischen Intervallen gleichenden Abständen hin- und herschwenkte, sie spendeten in steter und unermüdlicher, verschwenderischer Fülle ihren immergleichen Zauber, ohne mir jedoch zu gestatten, tiefer in ihn zu dringen, ähnlich wie bestimmte Melodien, die man hundertmal nacheinander spielen kann, ohne doch ihrem Geheimnis irgend näher zu kommen. Einen Moment lang wandte ich mich von ihnen ab, um mich ihnen hinterher mit frischen Kräften erneut nähern zu können. Spielerisch verfolgte ich bis zu der Böschung, die hinter der Hecke steil zu den Feldern hin anstieg, eine hier und da verloren stehende Mohnblume oder eine müßige, am Weg zurückgebliebene Kornblume, deren Blüten den Hang dekorierten wie die Bordüre eines Teppichs, auf der das ländliche Motiv noch sehr zurückhaltend dargestellt ist, das dann auf dem großen Medaillon triumphiert; vereinzelt noch und weit auseinander stehend wie abgelegene Häuser, die bereits die Nähe des Dorfs ahnen lassen, kündetetn sie mir von den immensen Weiten, über die der Weizen wogt und die Schäfchenwolken ziehen, und der Anblick einer einzigen Mohnblume, die ihre rote Flagge über die Toppen hißte und hoch über ihrem fettglänzenden, schwarzen Schanzkleid im Wind knattern ließ, ließ mein Herz höher schlagen, ganz wie dem Reisenden, der auf dem platten Land ein erstes gestrandetes Boot entdeckt, das von einem Kalfaterer repariert wird, und ausruft, bevor er es selbst noch gesehen hat: »Das Meer! «.<< (Proust)

>>Die Einsamkeit ist meinem Herzen köstlicher Balsam in dieser paradiesischen Gegend, und diese Jahreszeit der Jugend wärmt mit aller Fülle mein oft schauderndes Herz. Jeder Baum, jede Hecke ist ein Strauß von Blüten, und man möchte zum Maienkäfer werden, um in dem Meer von Wohlgerüchen herumschweben und alle seine Nahrung darin finden zu können.<< (Goethe, Die Leiden des jungen Werther.)

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