Anna Mitgutsch: „Die Grenzen der Sprache“, Residenz Verlag, Wien 2013, 108 Seiten
Dieser Essayband handelt von den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten von Sprache und von dem Streben der Dichtung, sich dem Unsagbaren zu nähern. Anna Mitgutsch macht deutlich, dass Poesie nicht nur die Dichter angeht, sondern uns alle anspricht, weil sie existenzielle Erfahrungen vermitteln kann.
Der soeben erschienene Essayband handelt von den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten von Sprache und von dem Streben der Dichtung, sich dem Unsagbaren zu nähern. Drei Essays – oder Kapitel – fügen sich zu einer Gesamtheit zusammen, in deren Zentrum die These steht: „In der Dichtung ist das Wort nie bloßes Kommunikationsmittel, es ist das, wenn auch unzulängliche, Instrument, mit dem wir in unserem Leben und in der menschlichen Existenz einen Sinn zu erkennen suchen.“
Das erkundet Mitgutsch im Dialog mit sprachgewaltigen Autorinnen und Autoren der europäischen und US-amerikanischen Literatur: von der enigmatischen Dichterin Emily Dickinson über Herman Melville, Edgar Allen Poe, Rainer Maria Rilke, Jorge Luis Borges, Samuel Beckett, Franz Kafka bis hin zu Paul Celan. Die Bibel spielt eine wichtige Rolle, aber auch Philosophen und die – vorwiegend jüdische – Theologie: Wittgenstein, Walter Benjamin, Gerschom Scholem und andere.
Man kann die Anordnung der Texte auf zwei Weisen (kreisförmig oder linear) verstehen. Im mittleren Essay, „Weltinnenraum“, setzt sich die Autorin mit der Auffassung auseinander, Sprache benenne nur, was ist, sie könne nie das Unsagbare sagen. Sie fragt demgegenüber, auf welche Weise Literatur gerade nach dem Unsagbaren strebt. Um diesen Essay ordnen sich die beiden anderen an.
Alternativ liest man sie nacheinander als Entwicklungsgeschichte der modernen Poesie seit dem 19. Jahrhundert. „Die Welt, die Rätsel bleibt“ führt eindringlich vor, wie die Dichtung – etwa Emily Dickinsons – Horizonte erforscht, denn an der „Schnittstelle des Horizonts setzen wir die Vorstellung der Unendlichkeit an“. Lyrik ist in dieser Phase die Suche nach existenziellen Antworten, das Ausloten der Grenze zum Nichts – oder die (unerfüllbare) Suche nach Gott.
Der zweite Essay („Weltinnenraum“) thematisiert die Sprachkrise des frühen 20. Jahrhunderts, in der Wirklichkeit und Sprache nicht mehr zur Deckung zu bringen waren. Daraus resultiere die Besinnung auf die magische Kraft des Wortes. Rilkes Dichtung verschmelze Ich und Welt und blicke auf den „Weltinnenraum, der alles umfasst, die Dinge und Gott und das Ich“. Im weiteren 20. Jahrhundert schließlich („Der Abgrund“) sei der Horizont nur noch Versatzstück, das den Verlust jeder Transzendenz verdecke, spätestens nach „dem Zivilisationsbruch der Vernichtungslager im Nationalsozialismus“.
Ein gelehrtes, ein tiefsinniges Unterfangen – zugleich vollkommen verständlich und ungemein gut zu lesen. Die Romanautorin Mitgutsch brilliert in der halb literarischen, halb sachlichen Form des Essays, der – als „Versuch“, wie der Begriff ja wörtlich übersetzt heißt – Raum für Experimente lässt und eine hohe literarische Qualität besitzen kann. Anna Mitgutschs Texte besitzen Eleganz und Geschmeidigkeit. So werden die philosophischen Themen transparent. Und es wird deutlich, dass Dichtung nicht nur die Dichter angeht, sondern uns alle anspricht, weil sie mit der Art und Weise ihres Sprechens existenzielle Erfahrungen vermitteln kann.
Besprochen von Gertrud Lehnert
Anna Mitgutsch: Die Grenzen der Sprache
An den Rändern des Schweigens
Residenz Verlag, Wien 2013
108 Seiten, 16,90 Euro
Quelle:
http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/kritik/2018870/