Buchtipp: Neue Studie zu Kafkas Prozeß

Der Autor Christian Kurze hat eine sehr empfehlenswerte Studie vorgelegt, die jetzt im Kadmos-Verlag erschienen ist. Titel: „Kafkas Proceß und die Satellitentexte – Verborgene Verbindungen zwischen Romantext und weiterer Prosa der Proceßzeit“ (192 Seiten/ 12×19 cm/ gebunden/ 19,90 Euro)

Nachfolgend ein Interview, das ich mit dem Autor am 31.5.17 geführt habe:

Was gab Ihrer Studie den ersten Impuls?
Die Idee ist während meiner Studienzeit an der Uni Braunschweig entstanden. Die Anregung kam während eines Kafka-Oberseminars von Prof. Jost Schillemeit, der einigen als Mitherausgeber der Kritischen Kafka-Ausgabe bekannt sein dürfte. Wir sprachen über die Strafkolonie, die im gleichen Zeitraum wie der Proceßroman entstand und die ganz offensichtliche Querverbindungen zum Roman aufweist. Zu untersuchen, ob dies eine singuläre Zufälligkeit ist, oder ob sich hier ein Kompositionsprinzip versteckt, war sozusagen die Geburtsstunde meines Büchleins.

Der eigentümliche, hochinteressante Kompositionsverlauf bei der Entstehung des Proceßromans ist bekannt: Kafka hatte das erste und letzte Kapitel bereits zu Beginn der Niederschrift verfasst, um ein Fragmentbleiben des Romans wie beim ‚Verschollenen“ zu verhindern. Worauf bzw. auf welche andere Auffälligkeit fokussiert sich Ihre vorgelegte Studie?
Wie schon eben angedeutet, geht es mir darum, den Entstehungsprozess des Romans unter die Lupe zu nehmen. Während der Romanentstehung von August 1914 bis Januar 1915 entsteht nämlich nicht nur In der Strafkolonie, sondern zahlreiche weitere Erzähltexte wie z.B. Der Dorfschullehrer, Erinnerungen an die Kaldabahn oder Der Unterstaatsanwalt, die auf den ersten Blick vermeintlich kafkatypisch rätselhaft und unverständlich daherkommen. Auf diese parallel zur Romanentstehung niedergeschriebenen Texte und ihre Bezüge zum Roman richtet sich mein Blick.

Was konnten Sie dabei herausfinden?
Ich habe mir angeschaut, zu welchem Zeitpunkt der Romanentstehung (welches Kapitel, welche Textstelle) welcher Paralleltext entsteht und konnte dadurch plötzlich erkennen, dass diese Texte in einem unmittelbaren Zusammenhang zum Proceßroman stehen: Einige fungieren als metaphorisch verschlüsselte Kommentare Kafkas zum Inhalt des Romans oder reflektieren den aktuellen Moment der Romanentstehung. Andere dienen als produktionsästhetische Steigbügel, die Kafka nach einer Schreibhemmung die Weiterarbeit am Roman ermöglichen sollten. Für diese Paralleltexte habe ich den bildhaften Begriff „Satellitentexte“ gewählt, da sie quasi wie Satelliten mit dem Roman verbunden in dessen Umlaufbahn kreisen.

Worin liegen Ihrer Ansicht nach die Gründe, dass Kafka sich mit Romanen schwertat? Er ging ja bzgl. des Proceßromans offensichtlich mit den Satellitentexten Umwege bzw. benötigte diese um überhaupt diesen Roman zu beginnen und fortzusetzen?
Kafka schrieb an drei großen Romanen, alle blieben unvollendet. Das ist kein Zufall, sondern hat ursächlich mit den Glückensbedingungen seines Schreibens zu tun, denen er sich seit der Niederschrift des Urteils im Jahr 1912 sehr wohl bewusst war. ‚Wie eine Geburt‘ müsse ein Text aus ihm herauskommen und dann ‚in einem Zuge‘ niedergeschrieben werden. Die Forderung an einen gleichsam inspiratorischen und vor allem ununterbrochenen Schreibvorgang war beim Niederschreiben eines Romans jedoch unerfüllbar. Hier – und das ist meine These – bediente er sich nun des Tricks, mit Hilfe der Satellitentexte immer wieder von Neuem Zugang zur Romanniederschrift zu erhalten, trotz unabdingbarer Unterbrechungen durch Schlaf oder Beruf.

Kann man vermuten, dass es Analogien bzw. Satellitentexte auch zu Kafka letztem Roman Das Schloß gibt?
Unbedingt! Kafka schreibt am Schloß von Januar bis August 1922. Ebenfalls in dieser Zeit entstehen u.a. die beiden bekannten Erzählungen Erstes Leid und Ein Hungerkünstler, die Kafka übrigens beide für Wert hielt, noch zu Lebzeiten zu veröffentlichen. Erstes Leid handelt von einem Trapezkünstler, der für die erfolgreiche Ausübung seiner Kunst stets das Turnen auf einem zweiten Trapez benötigt. Ein sinnfälligeres Bekenntnis zur produktionsästhetischen Notwendigkeit der Niederschrift von Satellitentexten kann es kaum geben. Gut möglich sogar, dass Kafka sich mit Erstes Leid gerade diese Notwendigkeit, die bei der Niederschrift des Proceß ja recht erfolgreich war, für den Fortgang der Arbeit am Schloßroman in Erinnerung rufen wollte…

 

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